Die organisierte Pferdezucht, so wie wir sie kennen, ist eine moderne Erfindung. Man weiß heute, dass die Domestikation der Pferde mehr oder weniger gleichzeitig an verschiedenen Orten stattfand und mit der Domestikation schlug auch die Geburtsstunde der Zucht, die damals allerdings noch wenig mit der heutigen organisierten Pferdezucht gemein hatte. Man suchte schlicht aus der vorhandenen Population die Individuen heraus, die am besten gefielen, die beste Leistung zeigten und paarte sie an. Mit der Nutzung des Pferdes als Reit-, Zug- und Lasttier vergrößerte sich der Aktionsradius des Menschen und damit hatte er bald auch Zugriff auf Pferdepopulationen außerhalb seiner angestammten Heimat.
Mit der Zeit erst erkannte man die Vorteile, die überlegtes und über längere Zeiträume organisiertes Handeln in der Pferdezucht brachten. Das Arabische Vollblut wird schon seit dem 7. Jahrhundert auf der Arabischen Halbinsel (rein) gezüchtet – mit Folgen, die weit bis in unsere moderne Warmblutpferdezucht reichen. Es entstanden Rassen wie Shagya-Araber oder Angloaraber, die ebenfalls Einfluss auf die Warmblutpferdezucht nahmen. Nach dem Zweiten Weltkrieg erlangte der Englische Vollblüter die größte Bedeutung als Veredlerrasse für die Zucht des modernen, warmblütigen Sportpferdes. Nicht nur der Warmblutzucht, sondern auch anderen Rassen wie dem Deutschen Reitpony oder dem Quarter Horse drückte und drückt das Englische Vollblut heute noch seinen Stempel auf.
[relatedposts type=’manu‘ ids=’5459,5562,5628,5648′]
So hat man in den letzten Jahrhunderten einen reichen Schatz an Erfahrungen und Wissen zusammengetragen und Instrumente zur Steuerung der Zucht entwickelt. Seit den Erkenntnissen Gregor Mendels hat sich unser Wissen um die Vererbung stetig weiter entwickelt. Trotzdem gibt es noch genug offene Fragen, insbesondere was die Erforschung der Vererbbarkeit erwünschter oder unerwünschter Eigenschaften angeht. Vor allem die Frage, ob und in welchem Ausmaß ein bestimmtes Merkmal genetisch oder umweltbedingt ist, beschäftigt Wissenschaftler und Züchter.
Strategie oder Glück bei der Hengstauswahl?
Das Ganze je nach Rasse mehr oder weniger stark reglementierte Geschehen rund um die Zucht mit Körungen, Leistungsprüfungen, Turniererfolgen, Preisgeldrankings, Zuchtwertschätzungen, Zuchtschauen und Fohlenbeurteilungen könnte den Eindruck erwecken, es handle sich bei der Pferdezucht inzwischen nicht mehr um eine Herzensangelegenheit, sondern um ein weitgehend nach streng wissenschaftlichen Gesichtspunkten stattfindendes Geschehen. Als ließe sich rein rechnerisch für jede Stute der passende Hengst finden, um ein optimales Zuchtergebnis zu erzielen. Als ließen sich bestimmte Merkmale und Eigenschaften frei addieren und mittel modernen Partner-Such-Webseiten. Etwa im Stile: Durchtrittige Stute sucht extrem steil gestellten Hengst zur Erzeugung normal gefesselter Fohlen. Oder: Weiblicher Dressurcrack sucht Springbegabung zur Produktion von Vielseitigkeits-Fohlen. Oder: Unterhals sucht Oberlinie.
Zwar spielen statistische und andere Erhebungen eine durchaus große und wichtige Rolle in der Zucht, doch lässt sich das optimale Fohlen nicht mathematisch ausklügeln. Der Stutenhalter kann heute trotzdem auf umfassende Informationen zu verfügbaren Hengsten zurückgreifen, kann seine eigenen Stuten natürlich ebenso ausgiebig prüfen und bewerten lassen, eine Frage jedoch kann ihm bis heute niemand zuverlässig beantworten: Wie passt dieser Hengst zu dieser Stute? Gute, vielleicht sogar hervorragende Anlagen auf beiden Seiten alleine bieten nämlich keine Gewähr dafür, dass am Ende ein tolles Fohlen auf der Weide steht. Trotzdem ist die „Zuchtwertschätzung“ ein wichtiges, allerdings auf langfristige Beurteilung ausgelegtes Instrument in der modernen Warmblutzucht.
Den Zuchtwert kann man nur schätzen
Die Summe der Eigenschaften jedes x-beliebigen Pferdes setzt sich untrennbar aus genetischen Faktoren und Umwelteinflüssen zusammen. Bezüglich jedes einzelnen Merkmals – Fellfarbe, Stockmaß, Lage der Schulter, Reinheit der Gänge, Ganaschenfreiheit, Temperament – ist der jeweilige Einfluss der Gene und der Umwelt unterschiedlich. Es ist oft nicht einfach, hier genau zu trennen: Ist dieses Pferd so gut, weil es gut ausgebildet wurde und nun ein hervorragender Reiter im Sattel sitzt, oder weil es das entsprechende Genmaterial in sich trägt? Fragen wie diese sind deshalb so wichtig, weil natürlich nur genetische Anlagen an die Nachkommen weitergegeben werden können. Von Eigenschaften, die ein Pferd aufgrund von Umwelteinflüssen (etwa eine gute Ausbildung) entwickelt hat, profitieren seine Nachkommen dagegen nicht. Dies gilt selbstverständlich nicht nur für erwünschte, sondern auch für unerwünschte Merkmale.
Bei der Ermittlung des Zuchtwerts eines Hengstes oder einer Stute muss deshalb eine recht komplexe Fragestellung bearbeitet werden: Wie lassen sich genetische Veranlagung und Umwelteinflüsse von einander trennen, wenn ich nur das Individuum mit seinen äußerlich feststellbaren Merkmalen als Grundlage habe? Wie kann ich bei Eigenschaften des Interieurs, Exterieurs oder Gangwerks erkennen, ob und inwieweit sie genetisch fixiert und damit vererbbar sind? Und wie stelle ich den Zuchtwert eines Individuums fest, ohne dieses zwangsläufig selbst einer Prüfung unterziehen zu müssen?
Es gibt verschiedene Methoden der „Zuchtwert-Schätzung“, nicht nur beim Pferd. Wichtig ist der Begriff an sich: Es ist eine Schätzung, also eine zwar objektiv gestützte, aber immer nur ungefähre Aussage darüber, wie der Wert des Zuchtpferdes im Hinblick auf die Gesamtpopulation zu bewerten ist. Eine Aussage über den vermutlichen Wert der Nachkommen, über den subjektiven Wert des Zuchtpferdes oder gar darüber, wie gut eine Anpaarung mit einem bestimmten anderen Individuum harmoniert, wird nicht gemacht. Ergebnis des Verfahrens ist lediglich eine Zahl die es erlaubt, das bewertete Pferd in Relation zu anderen zu setzen.
Auswertung von Statistiken wichtigste Grundlage
Die deutsche FN nutzt heute schon die „Integrierte Zuchtwertschätzung“, um Jahr für Jahr den Zuchtwert der Reithengste getrennt nach Spring- und Dressurveranlagung zu erfassen. Ein kurz BLUP (von Best Linear Unbiased Prediction, also: bestmögliche lineare objektive Vorhersage) genanntes statistisches Verfahren dient als wichtigste Grundlage der Zuchtwert-Schätzung. Ein komplexes Gleichungssystem macht es möglich, Umweltfaktoren wie etwa einen besonders guten Reiter aus Prüfungsergebnissen herauszurechnen. Das Programm zieht Leistungsdaten des Hengstes sowie seiner Verwandten heran, Daten aus dem Turniersport, aus Aufbauprüfungen, aus Zuchtstuten- und Hengstleistungsprüfungen. Neben dem Zuchtwert wird auch ein Maß für die Sicherheit mit angegeben. Damit wird die langfristige Zuverlässigkeit des Schätzwertes gemessen oder die Wahrscheinlichkeit, mit der sich der Schätzwert künftig noch ändern kann.
Auch bei anderen Rassen wie etwa dem Islandpferd ist die Zuchtwertschätzung mittels BLUP heute ein wichtiges Instrument. Oder in der Quarter-Horse Zucht, bei der Gewinnsummen der Nachkommen die Entscheidung für einen Hengst wesentlich beeinflusst. Trotz all dem ersetzt aber nichts das erfahrene Auge des Züchters, das bei manchen Rassen leider noch ganz auf sich alleine gestellt ist.