Eigentlich klingt es doch so einfach! „Richte Dein Pferd gerade und reite es vorwärts.“ Diese Richtlinie fordert den Reiter im Grunde dazu auf, sein Pferd so zu gymnastizieren, dass es die ihm zugedachten Aufgaben unter dem Sattel leisten kann, ohne Schaden zu nehmen. Immer mehr Freizeitreiter, unabhängig vom bevorzugten Reitstil, haben es sich heute zum Ziel gesetzt, ihr Pferd nach diesen Grundsätzen auszubilden.
Ein alter Hut
Schon in Waldemar Seunigs klassischem Werk „Von der Koppel bis zur Kapriole“ wandte sich der Verfasser entschieden gegen sogenannte natürliche Ausbildungsmethoden, die das Gebrauchspferd lediglich mittels Erziehung und Gewöhnung schulen und den Aspekt der gymnastischen Durchbildung vernachlässigen. Nimmt der Reiter nämlich nur soweit Einfluß auf sein Pferd, dass Richtung und Tempo bestimmt werden und versäumt die gymnastische Formung des Pferdes, hat dies laut Seunig weitreichende Folgen für Pferd und Reiter:
- Es treten vermehrt Gliedmaßenschäden auf, da der Trageapparat nicht durch den mit tragenden, elastischen Rücken entlastet werden kann;
- das nicht gymnastizierte Pferd wird bei gleichem Takt langsamer, mit weniger Raumgriff vorwärts gehen, dabei weniger elastisch treten und seinen Reiter vorzeitig ermüden;
- es wird die Vorhand überlasten und sich auf das Gebiss legen und schließlich
- im entscheidenden Moment den Gehorsam verweigern, da es nicht wirklich an den Hilfen steht.
Unabhängig vom gewählten Reitstil dienen spezielle gymnastizierende Ausbildungselemente also dazu, das Pferd auf verschiedene Art und Weise besser dazu zu befähigen, das Reitergewicht ohne Schaden aufzunehmen, die natürliche Gangveranlagung zu erhalten oder auszubauen und die Feinabstimmung zwischen Reiter und Pferd zu verbessern. Zu diesen Übungen gehören die Seitengänge Schulterherein, Konterschulterherein, Travers, Renvers und Traversale.
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Gymnastizieren: Was heißt das?
Muskeln, Sehnen, Gelenke, Bänder und Knochen des Pferdes sind aufeinander eingespielte, perfekt funktionierende Teile des Trageapparates. Jedes einzelne Element hat seine Funktion und wird durch bestimmte Eigenschaften charakterisiert. Zusammen befähigen sie das Pferd zu jeder Art Bewegung, welche die Natur vorgesehen hat. Dazu gehört nicht: Der Reiter, der es sich auf dem Pferderücken bequem macht, damit das Gleichgewicht des Pferdes verändert oder gar stört, der die vorgesehenen Bewegungsabläufe nach seinem Gutdünken beeinflußt, verändert oder ausbaut.
Eine sorgfältige Gymnastizierung des Pferdes mit dem Ziel, den Rücken tragfähig zu entwickeln, die Hinterhand vermehrt zur Aufnahme der Last zu befähigen und den gesamten Trageapparat geschmeidig und beweglich zu erhalten ist das einzige Mittel, das Pferd vor den negativen Auswirkungen der im Grunde „unnatürlichen“ Reiterei weitgehend zu schützen.
Die kennzeichnende Gemeinsamkeit aller Seitengänge ist die Kombination von Seitwärts- und Vorwärtsbewegung bei deutlicher Biegung der Körperlängsachse. Während der Pferdekörper in oder entgegen der Bewegungsrichtung gebogen ist, vollführen die Gliedmaßen gleichermaßen vorwärts wie seitwärts gerichtete Schritte. Im Unterschied zu der Beanspruchung während der üblichen Hufschlagfiguren auf der Geraden oder gebogenen Linie, die von allen Gliedmaßen eine der Richtung der Längsachse entsprechende Bewegung verlangt – also ein gerades Vorführen und Zurückschwingen jedes Beines – werden die Beine nun bei Vortreten seitlich abgestellt (Abduktion) und wieder an den Körper heran gezogen (Adduktion). Dabei wird immer ein Hinterbein vermehrt unter den Rumpf geführt, die Hanken des Pferdes werden gebeugt. Dies hat zur Folge, dass
- die geschmeidige Beweglichkeit in alle Richtungen gefördert wird und das Pferd so an Trittsicherheit und Elastizität zunimmt;
- alle Gangarten an Ausdruck und Aktion gewinnen,
- die Koordination des Pferdes durch die Kombination von Vorwärts- und Seitwärtsbewegung deutlich verbessert wird und
- die Feinabstimmung mit dem Reiter an Eindeutigkeit und Eleganz gewinnt.
Seitengänge: Wann und wo?
Ob junges oder älteres, wenig ausgebildetes Pferd: Reiter und Pferd müssen bereits ein gewisses Ausbildungsniveau erreicht haben, bevor sie sich an Seitengänge heranwagen. So nennt Alois Podhajsky, legendärer Leiter der Spanischen Hofreitschule, ein gutes Gleichgewicht bei gefestigter Anlehnung, Versammlung und Gehorsam als notwendige Voraussetzungen, wobei sich andererseits diese Aspekte durch Seitengänge weiter vervollkommnen werden.
Seitengänge werden zunächst nur für wenige Tritte verlangt und so eingeleitet, dass sie dem Pferd leicht fallen. Üblicherweise werden sie vorzugsweise im Trab, aber auch im Schritt oder teilweise im Galopp ausgeführt. Bis auf die Traversale können alle Seitengänge nicht nur in der Reitbahn, sondern auch auf jedem einigermaßen ebenen, griffigen Weg im Gelände durchgeführt werden. Der Reiter eines jungen Pferdes erleichtert sich und seinem Pferd das Erlernen, indem er zu Beginn eine Anlehnungsmöglichkeit in Form der Bande, einer Hecke oder eines Zaunes sucht, später können und sollten alle Seitengänge auch frei im Bahninneren oder auf Wegen ohne seitliche Begrenzung geübt werden.
ABC der Seitengänge
Das Schulterherein, laut Claus Penquitt „die wichtigste Lektion aller gymnastischen Übungen“, und seine Gegenlektion Konterschulterherein weichen insofern von den anderen Seitengängen ab, als das sie mit entgegen der Bewegungsrichtung gebogenem Pferd durchgeführt werden. Befindet sich das Pferd etwa auf der linken Hand, so wird zum Schulterherein die linke, innere Schulter in Richtung Bahninneres verschoben, das Pferd um den linken Schenkel gebogen. Es fußt auf drei oder vier Hufspuren: Ganz innen der linke Vorderhuf, dann rechter Vorderhuf und linker Hinterhuf in eine Spur (drei Hufspuren, Abstellung 30 Grad) oder nebeneinander (vier Hufspuren, Abstellung 45 Grad), außen dann der rechte Hinterhuf. Ob eine Abstellung von 30 oder von 45 Grad zu bevorzugen ist, darüber streiten die Gelehrten. Das Pferd greift mit dem inneren Hinterhuf (dem Hinterhuf der hohlgebogenen Seite, hier der linke) unter den Schwerpunkt. Der Reiter sollte vor allem darauf achten, daß sein Pferd nicht an Schwung verliert und auch nicht einfach mit Hals und Kopf nach innen klappt, dabei aber ungebogen geradeaus weiter läuft.
Zur Hilfengebung: Sie belasten den inneren Gesäßknochen, treiben innen mit am Gurt liegenden Schenkel vorwärts-seitwärts (mit dem Takt des inneren Hinterbeins) gegen die äußere Zügelhand, geben mit dem inneren Zügel Stellung/Biegung vor und sorgen mit dem verwahrenden äußeren Schenkel dafür, dass die Hinterhand nicht ausfällt. Der äußere Zügel muß ausreichend anstehen, um als Begrenzung zu dienen und zu verhindern, dass das Pferd über die Schulter ausfällt. Sie erleichtern sich das Zusammenspiel der Hilfen, wenn Sie eine Ecke ausnutzen, da Sie hier bereits die Biegung vorgeben und nur im entscheidenden Moment dafür sorgen müssen, daß Ihr Pferd dem inneren Schenkel gehorcht und seitwärts tritt. Halten Sie Ihre Hüften parallel zu denen des Pferdes, Ihre Schulter parallel zu der des Pferdes, so sitzen Sie richtig.
Schulterherein können Sie entlang der Bande, also geradeaus, aber auch auf dem Zirkel oder in einer Volte ausführen. Im Schritt fällt dem Reiter die Koordination der Hilfen leichter, doch Schwung und Takt des Pferdes leiden oft. Vorzugsweise wird diese Übung deshalb im Trab geritten.
Die Gegenlektion Konterschulterherein wird seltener geübt und ist von geringerer Bedeutung als das Schulterherein. Waldemar Seunig empfiehlt sie für solche Pferde, die beim Schulterherein gerne vor dem inneren Schenkel fliehen und dabei schief werden. Schulterherein und Konterschulterherein verhalten sich spiegelbildlich zueinander: Im Konterschulterherein ist das Pferd ebenfalls entgegen der Bewegungsrichtung gebogen, der Kopf ist zur Bande gewandt, die Hinterhand weicht in Richtung Bahninneres aus und das Pferd wird um den inneren (an der hohlgebogenen Seite liegenden, aber zur Bande gewandten) Schenkel gebogen.
Bei den Seitengängen Travers und Renvers ist das Pferd jeweils in die Bewegungsrichtung gebogen und fußt deswegen mit dem äußeren (an der konvexen Seite liegenden) Hinterhuf unter den Schwerpunkt. Dies fällt dem Pferd schwerer, weshalb Travers und Renvers erst dann angegangen werden sollten, wenn das Schulterherein perfekt klappt.
Beim Travers oder Kruppeherein tritt das Pferd mit der Hinterhand in die Bahn, es fußt wie beim Schulterherein auf drei oder vier Hufspuren: Innerer Hinterhuf, äußerer Hinterhuf und innerer Vorderhuf parallel (Abstellung 45 Grad) oder in einer Spur (30 Grad), ganz außen der äußere Vorderhuf. Auch diese Übung entwickeln Sie am besten aus dem Durchreiten einer Ecke. Stellen Sie sich vor, beim Übergang von der Ecke zur langen Seite Stellung und Biegung beizubehalten, während das Pferd nun der Bande entlang vorwärts tritt. Sie belasten den inneren Gesäßknochen, fassen den inneren Zügel leicht nach und geben so die Stellung vor, treiben dabei, die Biegung erhaltend, innen am Gurt. Der äußere Schenkel liegt verwahrend leicht hinter dem Gurt und hält die Hinterhand in der Bahn. Wieder sorgt der äußere Zügel dafür, daß das Pferd nicht mit Kopf und Hals nach innen klappt, sondern gleichmäßig gebogen ist.
Die Hilfengebung zur Konterlektion Renvers ist praktisch dieselbe, nur daß in diesem Fall die innere Seite des Pferdes (die hohlgebogene Seite) nach außen, der Bande zugekehrt liegt. Das Pferd weicht also mit der Vorhand ins Bahninnere aus.
Bei der Traversale, einer der wohl schönsten und spektakulärsten Elemente der Ausbildung, bewegt sich das Pferd im Bahninneren. Im Trab oder Galopp fußt es, parallel zur Bande ausgerichtet, entlang einer diagonalen Linie durch die Bahn. Auch bei dieser Übung erleichtern Sie Ihrem Pferd den Lernprozeß, wenn Sie sie aus einer geläufigen Hufschlagfigur entwickeln. Sie können zunächst nach einer großen Kehrtvolte mit nur flacher Biegung zurück auf den Hufschlag traversieren und später allmählich daran arbeiten, die erwünschte Biegung des Pferdes zu erarbeiten und größere Strecken zu verlangen. Die Hilfengebung entspricht der zum Travers, der nun lediglich in die Bahnmitte, entlang einer unsichtbaren Bande verläuft.
Was bringt es dem Freizeitreiter?
Zugegeben, zunächst mag die Vielfalt an Begriffen und Hilfen etwas verwirrend erscheinen, doch im Grunde eint alle Seitengänge das Prinzip der drei bzw. vier Hufspuren, die Kombination von Vorwärts und Seitwärts und die zugrundeliegende Hilfengebung. Trotzdem: Hält der Reiter nicht alle Seitengänge sowohl in seiner Vorstellung als auch bei der Ausführung fein säuberlich auseinander (und trennt sie vom Schenkelweichen), entsteht ein undefinierbarer Mischmasch ohne gymnastizierende Effekte. Eine positive Wirkung der Seitengänge auf die Ausbildung von Pferd und Reiter hängt weitgehend davon ab, dass Reiter und Pferd ausreichend vorbereitet sind und sich Zeit lassen, jeden Seitengang zu festigen, bevor mit einer neuen Lektion begonnen wird.
Gelingt dies, wird eine natürliche Versammlung bei leichtester Anlehnung Reiter und Pferd für ihre Mühen belohnen. Langfristig wirkt sich die sorgfältige und permanent betriebene gymnastizierende Arbeit, die ohne Seitengänge nicht auskommt, auf Gesundheit, Wohlbefinden und Belastbarkeit des Pferdes direkt aus.
Checkliste Seitengänge
Schulterherein rechts/auf der rechten Hand
– rechte Seite konkav gebogen, rechte Schulter ins Bahninnere verschoben
– linke Kruppe hat Anlehnung an die Bande
– linke Schulter führt
Schulterherein links/auf der linken Hand
– linke Seite konkav gebogen, linke Schulter ins Bahninnere verschoben
– rechte Kruppe hat Anlehnung an die Bande
– rechte Schulter führt
Konterschulterherein rechts/auf der linken Hand
– rechte Seite konkav gebogen
– Pferdenase schräg gegen die Bande gerichtet
– linke Schulter führt
Konterschulterherein links/auf der rechten Hand
– linke Seite konkav gebogen
– Pferdenase schräg gegen die Bande gerichtet
– rechte Schulter führt
Travers rechts/auf der rechten Hand
– rechte Seite konkav gebogen, rechte Kruppe ins Bahninnere verschoben
– linke Kopfhalspartie hat Anlehnung an die Bande
– rechte Schulter führt
Travers links/auf der linken Hand
– linke Seite konkav gebogen, linke Kruppe ins Bahninnere verschoben
– rechte Kopfhalspartie hat Anlehnung an die Bande
– linke Schulter führt
Renvers rechts/auf der rechten Hand
– linke Seite konkav gebogen, rechte Schulter ins Bahninnere verschoben
– linke Kruppe hat Anlehnung an die Bande
– linke Schulter führt
Renvers links/auf der linken Hand
– rechte Seite konkav gebogen, linke Schulter ins Bahninnere verschoben
– rechte Kruppe hat Anlehnung an die Bande
– rechte Schulter führt
Traversale nach rechts
– rechte Seite konkav gebogen
– diagonale Bewegung von hinten links nach vorne rechts durch die Bahn
– rechte Schulter führt
Traversale nach links
– linke Seite konkav gebogen
– diagonale Bewegung von hinten rechts nach vorne links durch die Bahn
– linke Schulter führt