Reiten ohne Gebiss: So geht´s

Quarter Horse PortraitGeländereiten ohne Notbremse im Maul klingt erst einmal lebensmüde. Doch bei genauerem Hinsehen spricht vieles dafür. Als vor knapp zehn Jahren der amerikanische Universitätsprofessor Prof. Dr. Robert Cook seine umstrittene Studie „The effect of the bit on the behaviour of the horse“ (Die Auswirkungen des Gebisses auf das Verhalten des Pferdes) veröffentlichte, gab es eine kleine Revolution unter den Reitern. Viele hängten ihre Trensen und Kandaren an den Nagel und kauften sich ein Bosal, Sidepull oder Bitless Bridle.

Über drei Jahre hinweg hatte Cook hunderte Pferde untersucht, um festzustellen, ob Gebisse Angst und Schmerzen auslösen. Sein Ergebnis: Das Gebiss ist verantwortlich für zahlreiche Verhaltensstörungen und pathologische Veränderungen der Kieferknochen. Und es kommt noch schlimmer: „Fremdkörper im Maul rufen verschiedene Reflexe aus dem Bereich der Nahrungsaufnahme hervor, zu denen die Dorsalverlagerung des Gaumens ebenso gehört, wie der Speichelfluss“, schreibt Cook in seiner Arbeit, „Unter Rennbelastung muss der Nasen- und Rachenraum des Pferdes auf starkes Atmen eingerichtet sein, während sein Reflexsystem im Maul auf Fressen eingestellt ist. Die Evolution hat das Pferd jedoch nicht auf beide Mechanismen gleichzeitig eingerichtet.“ Die bloße Anwesenheit eines Gebisses im Maul reicht also schon, um das Pferd in seiner Atmung zu behindern.

Kein Platz fürs Gebiss

Die Tierärztliche Hochschule Hannover wies zudem nach, dass es in der Mundhöhle des Pferdes grundsätzlich keinen Platz für ein Gebiss gibt. Dies sei umso schlimmer, weil die meisten Warmblüter durch die Veredelung mit Vollblütern einen kleineren Kopf und eine zierlichere Mundhöhle bekamen, wohingegen die Größe und Dicke der Gebisse weitgehend unverändert blieben. Eine Studie des forensisch-medizinischen Labors in St. Petersburg fand gar heraus, dass eine Verletzung von Knochenhaut und Unterkieferknochen Standart bei fast jedem mit Gebiss gerittenen Pferd sei.

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Die logische Schlussfolgerung daraus wäre: Reiten mit Gebiss ist Tierquälerei. So deutlich sagt Monika Lehmenkühler das nicht. Doch die Erfinderin des LG-Zaums – die Abkürzung steht für „Lehmenkühlers Glücksrad“ – ist mittlerweile überzeugt, dass das Gebiss ein Irrtum ist. „Meiner Meinung nach haben 100 Prozent der Pferde Probleme damit. Es entstehen Blockaden im Kiefer, die sich bis in die Lendenwirbel fortsetzen. Sogar Koliken können daher kommen, weil der Fremdkörper im Maul die Speichelkomposition verändert“, sagt die Reiterin und Ausbilderin. „Versuchen Sie doch einmal mit einem Teelöffel im Mund zu joggen. Man bekommt dabei nur sehr schwer Luft. Pferde haben mit Gebiss im Maul dasselbe Problem.“

Rennen und Essen im Selbstversuch

Der hessische Ausbilder Peter Pfister hörte diese These und probierte es direkt im Selbstversuch aus. Er versuchte zudem, während des Joggens zu kauen, zu schlucken und zu atmen. Seine Erfahrung: „Das stimmt ganz sicher: Wenn man rennt, hat man keine Luft mehr um zu essen. Das Gaumensegel verschließt sich, damit kein Speisebrei in die Luftröhre gelangt.“ Dennoch bezeichnet er die Studie von Cook als „ein bisschen abenteuerlich.“ Der Grund: Was für Rennpferde gilt, gelte noch lange nicht für Dressurpferde. Diese, so Pfister leisten eine andere Art von Arbeit, die eher mit Turnen als mit Sprinten zu vergleichen sei.

Davon aber abgesehen, reitet Pfister selbst viele seiner Pferde mit Glücksrad. „Das ist der präziseste gebisslose Zaum“, sagt er. Daneben sind bei der Jungpferdeausbildung in Pfisters Stall auch Sidepull und Knotenhalfter in Gebrauch. Erste Bodenarbeitsübungen geschehen mit Knotenhalfter, danach ist als Übergang das Sidepull in Gebrauch, weil es eine ähnliche Wirkungsweise hat und schließlich Lehmenkühlers Glücksrad.

Peter Pfister, der grundsätzlich gerne über Druckpunkt-Stimulierung arbeitet, schätzt am LG-Zaum seine Wirkungsweise auf Nacken, Nase und Kinngrube. Besser als mit jeder anderen gebisslosen Zäumung könne er damit das Pferd auch lateral stellen, es in Dehnungshaltung reiten und sogar Bezäumung herstellen. „Es ist auch nicht so schlabberig um den Kopf wie ein Sidepull“, sagt er. Dennoch verzichtet der Trainer nicht komplett auf seine Trense und sein Kimblewick. Das Abkauen, Speicheln und Lösen gehört für ihn dazu, um Dressurlektionen mit der allerletzten Präzision zu reiten. Die eigenen, weit ausgebildeten Pferde, gehen deshalb nur ganz selten gebisslos an die Arbeit. Doch dieses Gefühl müsse nicht für jeden Reiter gelten, sagt er.

Wirkungsweisen verschieden

Wer sich für eine gebisslose Zäumung entscheidet, der sollte sie auf keinen Fall einfach anlegen und losreiten. Nicht jede gebisslose Zäumung wirkt auf die gleiche Weise (siehe unten). Einige davon, wie beispielsweise das Bosal, benötigen eine sehr differenztierte Hilfengebung. Bei falscher Anwendung kann das Pferd entweder abstumpfen oder zu hektischem Kopfschlagen neigen.

Bereits vom Boden aus können Sie Ihren neuen Zaum in Betrieb nehmen: Das Pferd lernt, signalartige Hilfen kennen, wie das Zupfen am Knotenhalfter. Es lernt, dass die fein dosierte Hilfe sich allmählich steigert, bis es reagiert. Es lernt, dass die Hilfe sofort auf Null zurückgeht, wenn die gewünschte Reaktion erfolgt. Reiten Sie zunächst einige ruhige Übungen im langsamen Tempo auf dem Reitplatz oder in der Halle, am besten unter Anleitung. Schwierigere Lektionen, schnelles Tempo und Geländeritte lassen Sie so lange bleiben, bis Sie sich im Umgang mit ihrer neuen Zäumung sicher fühlen.

Bei der Umstellung von einem Gebiss spürt man den Unterschied: Das Pferd muss lernen, sich mehr selbst zu tragen und nicht über die Reiterhand und das Gebiss. „Auf der Hand lümmeln“ ist natürlich in allen Reitweisen verpönt, doch scheint das Gebiss diese Angewohnheit eher zu fördern. Aus diesem Grund eignet sich eine Signalreitweise wie das Westernreiten eher für eine gebisslose Zäunung, als eine Reitweise, die auf der steten Anlehnung des Pferdes basiert. Wer Anlehnung nicht mit „Drauflehnen und Gegenhalten“ verwechselt, sondern die jederzeit abrufbare Anlehnungsbereitschaft fördert, dessen Arbeit wird auch ohne Gebiss von Erfolg gekrönt sein.

Notbremse Gebiss?

Was das Reiten im Gelände angeht, so wollen viele Pferdebesitzer hier nichts aufs Gebiss verzichten. Denn mit ihm gibt man auch gleichzeitig seine „Notbremse“ auf. Grundsätzlich korrekt. Doch auch dieses Schwert ist zweischneidig: Andersherum lösen durch das Gebiss verursachte Schmerzen oft gerade ein Durchgehen oder Steigen aus, das ohne ängstliches „Am-Zügel-Reißen“ ausgeblieben wäre. In der Praxis gibt es zahlreiche Fälle von ehemaligen Durchgängern, die plötzlich lammfromm mit LG-Zaum durchs Gelände trotten. Aber es gibt auch Fälle, bei denen der Reiter im Krankenhaus landete, weil sein Sidepull gegen die Frühlingsgefühle seines Rosses machtlos war.

Die häufigsten gebisslosen Zäumungen:

Kappzaum: Er wird meist zum Longieren und der Bodenarbeit verwendet – in erster Linie beim Longieren und beim Training junger Pferde. Er liegt eng am Kopf an wie ein Reithalfter. In Longe oder Führstrick werden im mittleren der drei Ringe befestigt, die sich auf dem Nasenstück befinden. Dadurch wird Druck auf das Nasenbein ausgeübt. Hilfszügel bzw. Reitzügel werden in den beiden seitlichen Ringen eingehakt. Im Verlauf der Ausbildung kann der Kappzaum mit einem Gebiss mit separaten Zügeln kombiniert werden. Kappzaum-Varianten aus Südwesteuropa (Serreta, Caveçon) werden häufig zum Einreiten und oft auch danach zum Reiten benutzt.

LG-Zaum: Nasen-, Backen- und Kinnriemen sowie Zügel sind an einem sechsspeichigen Rad befestigt, dass sich je nach Einstellung bei Zügelzug mehr oder weniger dreht. So wirkt das Glücksrad entweder wie ein Sidepull (Impuls einzig auf den Nasenrücken) oder mit Hebel übers Kinn und Genick mit leichter Hebelwirkung. Wer noch etwas mehr will, kann zusätzlich Shanks (Anzüge) in das Speichenrad des Zaumes einschnallen – ähnlich wie bei einer Baby- oder Wander-Hackamore. Ein Vergleich mit der mechanischen Hackamore passt nicht, da deren Shanks von der Länge und von der Mechanik her anders aufgebaut sind.

Sidepull: Vom Aufbau her ist das Sidepull ähnlich wie ein Halfter mit verstärktem Nasenriemen aus Rohhaut. Es liegt locker am Pferdekopf an und wirkt nur auf die Nase. Westernreiter verwenden das Sidepull zum Einreiten junger Pferde, um ihnen die seitwärts treibenden Hilfen beizubringen. Eine Abwandlung des Sidepulls ist das Lindel, dessen Nasenriemen nur aus Leder ist.

Bitless Bridle: Robert Cooks Antwort auf Gebissreiterei: Das Bitless Bridle wirkt auf den Nasenrücken, die Ganaschen und das Genick. Dabei laufen die Zügel über ein Genickstück, kreuzen unter den Ganaschen und führen durch seitliche Ringe am Nasenband. In Deutschland wird eine Ausführung hergestellt, bei dem der Zügel durchgehend hinter dem Genickstück des Reithalfters verläuft. Kam wegen zeitverzögerter Wirkung in die Kritik.

Hackamore: Sie setzt sich zusammen aus dem Bosal aus fester Rohhaut, und der Mecate, einem Seil aus Pferdehaaren, das die Verbindung vom Bosal zur Reiterhand herstellt. Die Zäumung wirkt auf den Nasenrücken, die Außenseiten der Nase und das Kinn. Bosalreiten ist eine eigene Philosophie, die nur in einem speziellen Kurs gelernt werden sollte.

Merothisches Reithalfter: Durch die einseitige oder beidseitige Zügelaufnahme erfolgt eine mechanische Einwirkung und erzeugt damit einen halben bis vollen Rundschluss. Sie ist mit jeder konventionellen Zäumung kombinierbar. Kritiker stören sich an der Knebelwirkung bei beidseitig angezogenen Zügeln.

Mechanische Hackamore: Die am meisten kritisierte gebisslose Zäumung. Durch die hebelartigen Anzüge wird schon bei leichtem Zügelzug ein harter Druck auf den empfindlichen Kinnnerv, das Nasenbein und das Genick ausgeübt. Die Mechanische Hackamore kann nur einhändiggeführt werden und lässt damit keine einseitigen und damit biegenden Hilfen zu.

Anforderungen an gebisslose Zäumungen:

  • Guter Sitz am Pferdekopf: Darf in keiner Situation dicht ans Pferdeauge rutschen / auf dem Nasenrücken nach oben rutschen.
  • Darf Hilfen nicht „verwaschen“ ankommen lassen: Ideal ist die direkte Hilfengebung durch Druck auf Nasenrücken, Kinn und Genick und sofort nachlassender Druck beim geringsten Nachgeben der Reiterhand.
  • Seitliche Hilfengebung (einseitige) muss möglich sein (das ist z.B. die Schwäche der über-Kreuz-wirkenden Zäumungen).
  • Idealerweise verstellbar: Die Stärke und Wirkung der Zügelhilfen sollten dem Ausbildungsstand von Pferd und Reiter anpassbar sein, eine „schärfere“ Einstellung soll dabei feinere Hilfengebung möglich machen, die Basiseinstellung als sanfteste Einstellung ist für Einsteiger, junge Pferde und für gemütliche Ausritte gedacht.
  • Material: Darf keine Scheuerstellen, allergische Reaktionen, Verletzungen durch scharfe Kanten verursachen. Zügel verschiedenster Machart sollten eingeschnallt werden können, da nicht jeder Reiter den gleichen Zügel bevorzugt.

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