Reiten nach einem Schlaganfall: Wie Axel Kruse und Michael Wimme wieder aufs Pferd kamen

Es gibt zwei Momente im Leben von Axel Kruse, die so unermesslich sind, dass man sie mit Worten nicht beschreiben kann. Der eine war im Jahr 2011, kurz nach seinem Sieg beim CSIO-Springparcours im französischen La Baule. Da wird die Deutschlandfahne gehisst und die Nationalhymne erklingt. Gefasst sitzt Kruse auf seinem Pferd, das Gesicht unbewegt. Doch hinter seiner Stirn tobt ein Orkan. Am Zaun steht seine Mutter und weint. „Es hat sich doch gelohnt, zu kämpfen“, denkt er. Und: „Der absolute, total unerwartete Wahnsinn!“

Der andere Moment spielt sieben Jahre zuvor. Auch hier ein Springturnier. Ein Abreiteplatz. Axel Kruse ist hochkonzentriert. Es ist ein Turnier der schweren Klasse. Was dann passiert, ist wie ein Horrorfilm. „Von einer Sekunde auf die andere ging einfach der Lichtschalter aus“, erinnert sich der heute 50-Jährige. Ganz plötzlich wird er bewusstlos, fällt vom Pferd. Der Notarzt diagnostiziert einen Schlaganfall, ausgelöst durch eine Thrombose an einer Hauptschlagader am Hals. 80 Prozent der Menschen, die davon betroffen sind, sterben. Axel Kruse überlebt, doch als er wieder zu sich kommt, ist er komplett gelähmt. Nicht einmal die Augen kann er öffnen, nicht sprechen, nicht die Hand heben. Da ist er gerade mal 41 Jahre alt. Er hört, was die Menschen an seinem Krankenbett reden, doch niemand nimmt davon Notiz. „Das war nicht lustig“, erinnert er sich.

Vom Springpferd aufs Therapiepony

Nach einigen Tagen kann er seine linke Hand heben und Worte auf eine Tafel kritzeln. Wochen später sitzt er zumindest im Rollstuhl. Monate vergehen, bis er wieder verständlich sprechen und 100 Meter laufen kann. Er, der sein Leben lang Vielseitigkeit und Springen geritten ist, entscheidet, dass er es mit therapeutischem Reiten versuchen will. Unterstützt von zwei Therapeuten setzt er sich auf ein Pony – einer hält ihn fest, der andere führt das Pferd. „Eine Katastrophe!“, denkt Kruse. „Das hat nichts mit Reiten zu tun!“ Und doch fühlt es sich wunderbar an, wieder auf einem Pferderücken zu sitzen. Er entscheidet, die Therapie durchzuziehen.

Wie man es als Reiter schafft, nach einem Schlaganfall wieder aufs Pferd zu kommen, ist von Fall zu Fall verschieden. „Da gibt es keine Pauschalauskunft“, weiß Dr. Jan Holger Holtschmit, der erste Vorsitzende des Deutschen Kuratoriums für Therapeutisches Reiten (DKThR). „Jeder Schlaganfall ist anders. Es ist ein großer Unterschied, ob der Betroffene komplett gelähmt ist oder ob die Folgen wieder ganz abklingen.“ Wichtig sei aber in jedem Fall, dass der Wiedereinstieg von Ärzten und Therapeuten begleitet wird. Viele Schlaganfall-Patienten leiden an einseitigen physischen Folgen. Bleibt eine Körperseite gelähmt, wie im Fall von Axel Kruse, so erhöht das die Sturzgefahr. Nicht zu vergessen der verschlechterte Gleichgewichtssinn und die geringere Möglichkeit, sich abzurollen. „Ein Hippotherapeut kennt sich mit diesen Dingen aus“, sagt Holtschmit. Was er in den ersten Monaten mit dem Patienten macht, ist Krankengymnastik auf dem Pferd. Erst viele Jahre später kann man davon sprechen, dass der Betroffene „Reiten als Sport für Menschen mit Behinderung“ betreibt.

"Ich bin ein Krüppel. Schau mich an!"

Auch Michael Wimme ist heute ein solcher Handicap-Sportler. Der ehemalige Pferdewirt Schwerpunkt Reiten erlitt mit 21 Jahren einen Schlaganfall als Spätfolge eines Autounfalls mit schwerem Schädel-Hirn-Trauma. Als er nach wochenlanger Reha mit kompletter Halbseitenlähmung im Rollstuhl in die Reithalle über dem Krankenhaus fuhr, erkannte ihn die Reitlehrerin sofort, denn sie hatte ihn zuvor auf verschiedenen Springturnieren in Bayern gesehen. Und es war wie eine Schicksalsfügung, dass sie gleichzeitig Hippotherapeutin war. „Hey Michi“, begrüßte sie ihn. „Was machst du denn hier?“
„Nichts“, antwortete er. „Ich bin ein Krüppel, schau mich an!“
Doch das ließ die Trainerin nicht gelten. Sie holte ein Fjordpferd aus der Box und hiefte Wimme in den Sattel. „Auf dem kann jeder reiten“, behauptete sie. Und sie behielt Recht.

Heute, knapp 13 Jahre später, blickt er auf eine beeindruckende Laufbahn als behinderter Reiter sowie im Regelsport zurück. Zwölfmal war er Bayerischer Meister, zweimal Deutscher Vize-Meister, 2004 stand er sogar auf der Longlist der Paralympics in Athen. Zu Isabell Werth sagt er „Isi“ und „Du“. Manchmal gibt sie ihm Tipps, um seine Traversalen und Galoppwechsel zu verbessern. Und einmal sagte sie: „Jeden Tag, wenn ich aufstehe, weiß ich, dass ich schon morgen in der gleichen Lage sein könnte wie du.“ Der Stress, dem viele Profisportler und Führungskräfte ausgesetzt sind, ist einer von vielen Faktoren, die einen Schlaganfall begünstigen.

Die Restsymptome, die sogenannten Residuen, die nach einer Rehabilitation bei vielen Patienten zurückbleiben, stellen Reiter wie Axel Kruse und Michael Wimme erst einmal vor diverse Probleme. Lösungen finden sie meist gemeinsam mit ihren Therapeuten.

Hilfsmittel für behinderte Reiter

„Man muss dann über den Einsatz von kompensatorischen Hilfsmitteln nachdenken“, weiß Dr. Jan Holger Holtschmit. Das kann zum Beispiel ein Griff am Sattel sein, an dem der Reiter sich festhalten kann oder ein spezieller Zügel, der per Klettverschluss mit dem Handschuh verbunden ist. „Viele Lösungen sind ganz individuell. Es gibt keinen Katalog, aus dem man sich das aussuchen kann“, so Holtschmit. Umso wichtiger sei es, in dieser Phase mit einem Hippotherapeuten zusammen zu arbeiten und nicht mit einem klassischen Reitlehrer. Die Hilfsmittel werden in den Sportgesundheitspass der Reiter eingetragen und sind somit laut LPO auf allen Turnieren zulässig.

Axel Kruse kann mit seinem linken Bein noch 10 Prozent der Hilfen von früher geben, mit dem rechten gar keine mehr. Sein linke Hand führt den Zügel, der verkürzt und in der Mitte mit einem selbst gebastelten Steg versehen ist. Die rechte räumt er durch einen Griff ins Martingal auf, damit keine Spastik entsteht, die ihn beim Springen behindert. Am rechten Fuß hat er ein Gummiband, das von der Fußspitze unter dem Bügel bis nach hinten an die Ferse führt. So bleibt sein Fuß jederzeit im Bügel und er ist dazu in der Lage, eine Art leichten Sitz zu reiten. Auch Michael Wimme fixiert seinen Fuß beim Dressurreiten im Sicherheitssteigbügel. Keines dieser Hilfsmittel kann die Residuen ganz ausgleichen. Aber sie ermöglichen den beiden Sportlern ein Reitniveau, von dem viele Nichtbehinderte nur träumen. „Natürlich ist es nicht toll, dass meine linke Hand beim Reiten schlackert“, sagt Wimme, „und natürlich sieht man es am Sitz. Aber ich kenne ein paar Tricks von früher, wie ich das ausgleichen kann.“

Welche Pferde sind geeignet?

Neben der entsprechenden Ausrüstung benötigt man auch den passenden Sportpartner. Nicht jedes Pferd eignet sich dafür, einen körperlich behinderten Reiter durchs Viereck oder über einen Parcours zu tragen. Axel Kruse ritt gleich nach seinem Schlaganfall wieder sein eigenes Pferd, ein eigentlich eher hitziges Tier, das unter seiner Frau gern tanzte und zickte. Doch sobald er in den Sattel stieg, wurde es ruhig, „fast so, als wüsste es, was von ihm erwartet wurde.“ Nach der Chiron-Reitweise ausgebildet, sprang es schon immer sehr selbstständig, und dennoch war Kruse früher der Chef gewesen. „Das hat sich geändert. Denn ich habe keine Chance mehr, ein Pferd zu etwas zu zwingen“, erklärt er. „Dafür braucht man schon ein Tier mit überragender Intelligenz.“ Und einen Trainer, der es intensiv schult. In Kruses Fall ist das seine Frau Katrin, eine langjährige Schülerin von Rolf Becher.

Das perfekte Handicap-Pferd hat darüber hinaus möglichst angenehme Gänge und ein ruhiges Temperament. Es sollte sich nicht daran stören, wenn das Reiterbein an seiner Seite wackelt oder ein Zügelkontakt mal intensiver ausfällt. „Schlumpfbrav“, nennt Michael Wimme das und aus diesem Grund hieß sein Wallach Alcazar anfangs auch „Schlumpf“.

Wimmes erstes eigenes Pferd nach der Hippotherapie war sogar ein Westernpferd, das darauf trainiert war, stehen zu bleiben, sobald der Zügel am Boden lag. Das kam ihm einmal zugute, als er während eines Ausritts herunterfiel. „Das Pferd blieb stehen, ich robbte zu ihm hin, hievte mich hoch und ritt heim“, erinnert er sich. An diesem Tag wurde ihm klar, dass selbst ein Sturz ihn nicht mehr vom Reiten abhalten würde. Zuvor hatte er noch oft mit Ängsten zu kämpfen gehabt.

Körperliche und psychische Folgen

Die psychischen Folgen eines Schlaganfalls sind nicht zu unterschätzen. Viele Menschen fallen in ein tiefes Loch, wenn sie mitten im Leben noch einmal mühsam ganz von vorne zu müssen. „Früher ist man einfach auf ein 1,80-Meter-Hindernis zugaloppiert und drüber gesprungen“, beschreibt Wimme die Situation. „Dann liegt man plötzlich im Krankenhaus und muss die Schwester rufen, weil man zur Toilette will. Ich war anfangs von morgens bis abends am Heulen. Aber das liegt nun hinter mir.“

Mehr als alles andere hat ihm das Reiten bei der körperlichen und psychischen Genesung geholfen. Je größer das Vertrauen zwischen Reiter und Pferd werde, desto mehr verschwänden auch Angst und Stress und die Muskeln entkrampfen sich. „Eine bessere Therapie gibt es nicht!“, ist Wimme sicher. So sieht es auch Axel Kruse. Wieder im Sattel zu sitzen, habe nicht nur seine Körperwahrnehmung geschult, sondern vor allem sein Selbstbewusstsein gestärkt. Eine der wichtigsten Therapiemaßnahmen überhaupt! Laut Dr. Holtschmit vom DKThR hilft Reiten tatsächlich jedem Schlaganfall-Patienten, um Motorik, Koordination und Gleichgewicht zu verbessern, ganz gleich, ob er nun von einer Karriere im Handisport träumt oder nicht.

Das bestätigt auch Dr. Gisela Swoboda, die als selbstständig arbeitende Ärztin 2007 eine Hirnblutung erlitt und anschließend an allen vier Gliedmaßen gelähmt war. Ihr Sohn, ein Pferdewirt und Trainer im Behindertenreitsport brachte sie wieder aufs Pferd. „Ich erlebte am eigenen Leib, wie unglaublich heilsam es ist, auf dem Rücken eines Pferdes Bewegungen zu spüren, die sich im eigenen Körper fortsetzen und diesen aktivieren. Ich bekam neue Lebenskraft und Energie“, erzählt sie. Daraufhin gründete sie im Oktober 2009 die Selbsthilfegruppe „Reiten mit Handicap“ für Menschen mit MS, Schlaganfall oder nach einem Unfall. Die Pferde, die sie ihren Mitgliedern zur Verfügung stellt, sind allesamt speziell für diesen Zweck ausgebildet. Sie lassen sich nicht von Gehhilfen, Tretrollern und Rollstühlen irritieren, reagieren dafür aber auch auf kleinste Hilfen. Gisela Swoboda sagt: „Seit meiner Kindheit bin ich geritten, aber erst jetzt habe ich kennen gelernt, wie durch einfaches Atmen und geschmeidiges Sitzen eine Kommunikation mit dem Pferd beim Reiten möglich ist. Ich fühle mich auch beim Ausreiten absolut sicher und kann bei Bedarf dem Pferd die nötige Sicherheit geben.“ Diese Erfahrung will sie an andere Betroffene weitergeben. Denn durch einen Schlaganfall, so die Medizinerin, verändern sich nicht die Wünsche, Gefühle und Sehnsüchte der Menschen. „Nur ist die Umsetzung auf den gewohnten Bahnen oft nicht mehr möglich. Es gilt neue Wege zu finden, Möglichkeiten dazu zu schaffen und Hilfen anzunehmen.“ 

Serienwechsel und Pirouetten

Geschichten wie ihre eigene und die von Axel Kruse und Michael Wimme machen Mut. Denn sie beweisen, dass das Leben auch nach schweren Schicksalsschlägen weitergeht. Zwar gibt es leider sehr wenige Turniere, die auch behinderten Reitern, speziell Springreitern, einen Start ermöglichen – Kruse fährt dafür oft bis nach Frankreich – dennoch kommt es dabei oft zu Situationen, die sich für immer ins Herz der Handisportler prägen. Auch Michael Wimme hat einen solchen Moment erlebt, der ihm nicht mehr aus dem Kopf geht: Während der Munich Indoors, vor vollem Publikum, präsentierte er gemeinsam mit anderen behinderten Reitern eine Quadrille. „Ich glaube, die Zuschauer haben einen Haflinger erwartet, der ein Kind auf dem Rücken trägt“, erinnert er sich. Stattdessen bekamen sie Serienwechsel und Pirouetten präsentiert. Der Applaus war phänomenal, viele standen von ihren Sitzen auf. Und Wimme fühlte sich wie ein König. „Durch solche Erlebnisse bin ich mittlerweile richtig stolz auf mich“, sagt er. „Und genau das hält mich am Leben.“

 

So erkennen Sie einen Schlaganfall

Ein Schlaganfall kann sich durch viele Symptome äußern, jedoch gibt es einige charakteristische. Da jeder Schlaganfall als Notfall zu betrachten ist, müssen auftretende Symptome sofort im Krankenhaus abgeklärt werden, also der Notruf über die Telefonnummer 112 alarmiert werden. Dies ist unabhängig davon, ob ein oder mehrere Zeichen beobachtet werden. Zu den Symptomen gehören:

  • Sehstörungen
  • Sprach-, Sprachverständnisstörung
  • Lähmung, Taubheitsgefühl
  • Schwindel mit Gangunsicherheit
  • Sehr starker Kopfschmerz

Bis der Rettungsdienst eintrifft, sollte man versuchen, den Betroffenen zu beruhigen und ggf. beengende Kleidung zu lockern. Man sollte ihm keine Getränke oder Medikamente geben: Eine durch den Schlaganfall ausgelöste Schluckstörung kann zu schwerem verschlucken führen.

Sollte der Betroffene bewusstlos sein, muss er in die stabile Seitenlage gebracht werden. Wenn Atmung und/oder Herzschlag aussetzen, muss sofort mit Wiederbelebungsmaßnahmen begonnen werden.
(Quelle: Stiftung Deutsche Schlaganfall-Hilfe)

 

INFO:

Die Fachbereiche des therapeutischen Reitens

  1. Hippotherapie: Sie setzt auf der medizinischen, der Körperebene an und behandelt hauptsächlich neurologische Symptome. Eingesetzt wird sie bei verschiedenen Erkrankungen und Schädigungen des Zentralnervensystems und des Stütz- und Bewegungsapparates, also auch nach einem Schlaganfall. Die Therapie wird durchgeführt von Ärzten oder Therapeuten, die eine staatliche Anerkennung als Physiotherapeut/ Krankengymnast besitzen und die beruflichen Weiterbildung zum Hippotherapeuten (DKThR) erfolgreich abgeschlossen haben.
     
  2. Heilpädagogische Förderung: Sie umfasst heilpädagogische Maßnahmen zur ganzheitlichen und individuellen Förderung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen über das Medium Pferd. Der Schwerpunkt liegt auf der Ebene der geistigen und sozialen Entwicklung. Für Schlaganfall-Patienten von weniger Bedeutung.
     
  3. Ergotherapeutische Behandlung: Unter dem Begriff "Ergotherapeutische Behandlung mit dem Pferd" werden Behandlungen auf der Grundlage des sensomotorisch-perzeptiven, motorisch-funktionellen und psychisch-funktionellen Ansatzes unter Einbezug des Mediums Pferd verstanden. Die Behandlung wird von einer ausgebildeten Ergotherapeutin mit einer Zusatzqualifikation in der Ergotherapeutischen Behandlung mit dem Pferd durchgeführt und vom Arzt verordnet. Das kann auch zur Rehabilitation nach einem Schlaganfall hilfreich sein.
     
  4. Reiten für Menschen mit Behinderungen: Im Leistungsbereich messen behinderte Menschen ihr Können in speziell an Ihren Wettkampfklassen (Grade) ausgerichteten Prüfungen, z.B. bei den Paralympics, oder in Prüfungen gemeinsam mit nicht behinderten Reitern und Fahrern. Trainiert werden Menschen mit Behinderungen im Pferdesport von Trainern mit einer Zusatzqualifikation im Bereich Reiten als Sport für Menschen mit Behinderungen.

(Quelle: Deutsches Kuratorium für Theraeutisches Reiten (DKThR)

 

Die IG Springreiten mit Handicap…

… wurde im Jahr 2013 bei Bad Mergentheim in Bayern gegründet. Reiter wie Axel Kruse und Michael Wimme sitzen hier im Vorstand und haben es sich zum Ziel gesetzt, den Springsport für Reiter mit Handicap zu fördern und dessen therapeutischen Aspekte bekannt zu machen.

Info: www.springreitenmithandicap.de

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