Haru Urara – das schlechteste Rennpferd der Welt

„Nomen est Omen!“, muss sich der japanische Züchter Nobuta Bokujo gedacht haben, als er das kümmerliche Fohlen sah, das seine Stute Heroine 1996 zur Welt brachte. Zum Ausgleich taufte er den Nachwuchs „Lieblicher Frühling“ und bot ihn schnellstmöglich zum Kauf an. Doch keiner wollte das Stütchen haben, dem die Verwandtschaft mit seinem berühmten Vater Nippo Teio nur auf dem Stammbaum anzusehen war. In der Hoffnung, ihr großes Herz würde ihren schwachen Körper schon irgendwie ausgleichen, schickte Bokujo Haru-Urara selber auf die Rennbahn.

Am 17. November 1998, bei ihrem Debüt auf der Kochi-Rennbahn passierte es dann zum ersten Mal: Haru-Urara verlor. Schweißnass, mit hängender Zunge und pumpendem Atem ging sie als fünfte und letzte ins Ziel. In den folgenden sechs Jahren sollte ihr dieses Schicksal noch weitere 112 mal zuteil werden. Egal ob auf der heimischen Kochi Rennbahn, auf großen Bahnen in Tokio, mit schlechten, mittelmäßigen oder Weltklasse-Jockeys auf dem Rücken – Haru-Urara gewann niemals.

Der Haru-Urara-Boom

Im Juni 2003, nach ihrer 80. Niederlage, entdeckten die japanischen Medien die Stute. Damals hatte ihr Besitzer eben den Entschluss gefasst, sie zum Schlachthof zu schicken. Stattdessen wurde aus dem ewigen Verlierer über Nacht ein Superstar: „The shining star of losers everywhere“, tauften die Zeitungen das Pferd. Weil Haru-Urara nicht nur verlor, sondern dabei kämpfte. „Sie verliert, während sie sich das Herz aus dem Leibe rennt“, erklärte ein Fan. „Ihr Durchhaltevermögen und ihr Siegeswille, die Bereitschaft, es immer und immer wieder zu versuchen, inspiriert die Menge!“

Der Fernsehsender NHK befragte bei einem Rennen auf der Tribüne den 50-jährigen Versicherungsvertreter Masahiko Yahiro nach dem Grund für seine Haru-Urara-Leidenschaft und bekam zur Antwort: „Wir einfachen Angestellten wissen nicht mehr, was morgen aus uns wird. Es sind harte Zeiten. Wenn ich dieses Pferd sehe, das nie aufgibt, dann macht mir das Mut.“ Manch ein Japaner sah in der Underdog-Stute sogar ein Sinnbild für sein Heimatland schlechthin. Selbst Politiker beriefen sich bei ihren Reden plötzlich gern auf die Entschlossenheit und den Kampfgeist des Verliererpferdes.

Innerhalb weniger Wochen brach ein derartiger Haru-Urara-Boom aus, dass Rennbahnen und Merchandizer nicht mehr mitkamen. Anstatt Pleite zu gehen, musste die Kochi-Rennbahn plötzlich tausende von Besuchern unterbringen. Baseball-Caps, Schlüsselanhänger und kitschige Accessoires von Haru-Urara überschwemmten den Markt. Glücksbringer aus Schweif– und Mähnenhaaren wurden in größerer Anzahl verkauft als Steine der Berliner Mauer und waren sicher genauso echt. Bei jedem Rennen fiel die unscheinbare Stute künftig durch ein quietschrosa Hello-Kitty-Outfit auf. Zahlreiche Fans trugen T-Shirts mit ihrem Antlitz und dem Slogan „Never give up!“ Sogar die Unterwäsche-Firma Triumph ließ es sich nicht nehmen, einen Haru-Urara-BH zu designen.

Viele setzten bewusst aufs falsche Pferd

So sinnlos es auch erscheint – plötzlich setzten am Wettschalter so viele Leute bewusst aufs falsche Pferd, dass die Verliererin teilweise auf Quoten von 1,7 : 1 kam, anstelle von 100 : 1, was realer gewesen wäre. Der Grund dafür war nicht allein der Kult um Haru-Urara, sondern die allgemeine Abergläubigkeit der Japaner. Das japanische Wort „ataranai“ heißt nämlich gleichzeitig „eine Wette verlieren“ und „nicht betroffen sein“. Ergo: Wer einen Haru-Urara-Wettschein – und damit eine garantiert verlorene Wette – sein eigen nennen konnte, war damit auch gegen Verkehrsunfälle und Arbeitslosigkeit geschützt. Deshalb war der Trainer des Pferdes, Dai Muneishi, bald der einzige Mensch, der noch auf einen Sieg hoffte. Rennbahnbesucher wie der 21-jährige Noriyuki Fukui setzten 9,30 Dollar auf Haru-Urara und wünschten sich eine Niederlage. „Es ist besser, sie verliert“, erklärte der Student aus Tokio. „Sonst interessiert sich keiner mehr für sie.

Andere Besucher wie der 54-jährige Shinji Yoshida hingegen fuhren zweigleisig: „Ich habe auf Haru-Urara gesetzt, um einen Glücksbringer zu haben“, sagte er. „Aber ich habe im gleichen Rennen auch auf ein weiteres Pferd gesetzt – und das kam auf den dritten Platz.“

Zur 106. Niederlage der Stute pilgerten mehr als 13.000 Fans zur Kochi-Rennbahn, standen fünf Stunden lang in der Schlange vor dem Wettschalter und setzten mehr als 1,2 Millionen Dollar auf sie. Haru-Urara, geritten von Japans führendem Jockey Yutaka Take, enttäuschte nicht: Die ersten 200 der 1300 Meter hielt sie mit. Dann fiel sie zurück und belegte unter Jubel und Getöse den neunten von zehn Plätzen.

Ein Film über ihr Leben

Insgesamt verlor die Vollblut-Stute während ihrer sechsjährigen Rennlaufbahn 113 Rennen. Vier mal belegte sie Platz zwei und kam dadurch auf eine Gewinnsumme von 9.300 Dollar. Über ihr Leben wurde ein Film gedreht, in dem Haru-Urara selbst die Hauptrolle spielt (nur auf dem japanischen Markt erhältlich) und es gibt mehrere Popsongs über sie. Seit September 2004 blieb sie der Rennbahn fern. Kein Wunder, denn der galoppierende Underdog galt seit jeher als neurotisch. Ihr Leben als gefeierter Star machte der Stute zu schaffen. Vor anderen Pferden hatte sie Angst und fraß nicht einmal die Karotten gern, die ihre Fans an „Fräulein Haru-Urara“ adressiert per Post schickten.

Im Oktober 2006 trat sie dann offiziell zurück und bekommt seither ihr Gnadenbrot auf einem Bauernhof.

Info:

Haru-Uraras Konkurrenz

Der braune Wallach Zippy Chippy ist Haru-Uraras Gegenstück auf der anderen Seite des Globus. 1991 wurde er auf der Capritaur Farm in USA mit einem Pedigree voller berühmter Ahnen geboren und verlor in den kommenden Jahren 100 von 100 Rennen. Nach 86 Niederlagen in Serie wurde er zum „erfolglosesten Pferd der USA“ gekürt, wurde von seinen Fans für die „deutlichste Niederlage der Renngeschichte“ (67 Längen Rückstand ) umjubelt und bekam einen Eintrag ins Guinness Buch der Rekorde. Sein Besitzer und Trainer Felix Monserrate erhielt Zippy Chippy 1994 im Tausch gegen einen zehn Jahre alten Ford-Kleintransporter und bereute den Deal trotz des dauerhaften Misserfolges nicht: „Dieses Pferd hat trotz seiner Niederlagen Charakter. Die Leute merken, dass es sein Bestes gibt.“ Zippy Chippy brachte es im Laufe seiner Rennkarriere immerhin auf 28.206 Dollar Gewinsumme.

Auch England hat sein gefeiertes „schlechtestes Rennpferd“: Quixall Crosett kann mit stolzen 103 Rennen ohne Sieg aufwarten. Die Puerto Ricanische Stute Dona Chepa verlor sogar 125 Rennen in Folge, der australische Ouroene 124.

 

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