Erwachsene Reitanfänger – spezielle Angebote in Reitställen

So startete die FN (Deutsche Reiterliche Vereinigung) ein Pilotprojekt für „Erwachsene Einsteiger“, die Zielgruppe waren die „Ü30“. Insgesamt elf Vereine beteiligten sich, sie wurden von der FN vorbereitet, begleitet und ihre Erfahrungen wurden zusammen getragen und ausgewertet. FN-Mitarbeiterin Annette von Hartmann ist von der Wichtigkeit der Thematik überzeugt: „In den meisten Vereinen tummeln sich fast ausschließlich Jugendliche. Hinzu kommen einige Erwachsene, die in der Regel aber seit ihrer Kindheit im Sattel sitzen. In einer solchen Gruppe fühlen sich erwachsene Reitanfänger fehl am Platz. Sie haben keine Lust, in einer Abteilung mit vierzehnjährigen Mädchen zu reiten. Und mit dem Gekichere in den Stallgassen und am Hallenrand können sie meist auch nicht viel anfangen. Es ist also offensichtlich, dass diese Zielgruppe ein Extraangebot benötigt.“

Der Bedarf an Unterricht für Anfänger jenseits der 30 ist da. Auch ohne jede Werbung gab es bei allen Vereinen mehr Nachfragen als Teilnehmerplätze. „Viele Menschen jenseits der 30 warten auf die Möglichkeit, in den Sattel steigen zu können. Oft lässt ihre finanzielle Situation die Ausübung des angestrebten Hobbys jetzt erst zu“, so das erste Fazit des Projekts. Als problematischer erwies es sich, alle Teilnehmer eines Lehrgangs terminlich unter einen Hut zu bekommen. Durch Beruf und Familie sind Erwachsene zeitlich ganz anders eingebunden als Kinder und Jugendliche. So konnten die Vereine nicht allein einen festen Gruppenunterrichtstermin anbieten, sondern mussten den Reitunterricht sehr flexibel und individuell, auch mit Einzelstunden gestalten.

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Keine Lust auf kichernde Teenies

„Erwachsene Einsteiger kommen zwar häufig über die eigenen Kinder zum Pferd, aber im Stall sind sie am liebsten unter sich. Kein Erwachsener hat Lust, seine ersten Reitversuche unter den Augen von tuschelnden und kichernden Teenies zu starten“, beschreibt Projektleiterin Annette von Hartmann ihre Beobachtungen. Damit die Ü30er ein Gruppengefühl entwickeln konnten, boten die Reitvereine regelmäßig Wochenendtermine für ihre Teilnehmer an. Dort fand dann beispielsweise Theorieunterricht oder ein Ausritt statt. „Häufig hat man sich auch einfach zum gemütlichen Grillabend getroffen“, berichtet Annette von Hartmann und hebt hervor: „Das Erleben eines Gruppengefühls war allen Teilnehmern sehr wichtig.“ Die elf Frauen des Reitvereins Anröchte schwärmen beispielsweise heute noch von ihrem gemeinsamen Reiturlaub in der Lüneburger Heide. „Das war einsame Spitze!“ sind sie sich einig. „Wir fahren jederzeit noch einmal zusammen los.“

Nicht nur die Terminplanung erforderte Flexibilität bei den Reitlehrern. Ihnen wurde auch deutlich, dass Erwachsene andere körperliche Voraussetzungen mitbringen als Kinder. „Kinder sind fast den ganzen Tag körperlich in Action. Sie haben dadurch wesentlich weniger Koordinationsprobleme als Erwachsene, die ja häufig die meiste Zeit des Tages einer sitzenden Tätigkeit nachgehen. Bei vielen Erwachsenen dauerte es von daher länger, bis sie die Anweisungen des Reitlehrers umsetzen konnten“, erzählt Alexandra Otholt, Reitlehrerin des Vereins in Anröchte. „Dafür schätzen aber Erwachsene ihr Können viel realistischer ein als Kinder. Keiner fühlte sich nach den ersten Stunden schon als Könner, wie es bei Kindern und Jugendlichen häufiger der Fall ist.“

„Nach acht Stunden Bürostuhlsitzen bin ich erst einmal steif und verspannt. Aber Reiten ist für mich die beste Art zu entspannen. Die Bewegung auf dem Pferd tut mir gut. Reiten ist für mich besser als jede Gymnastik“, beteuert Ruth Albers aus Anröchte. Beachtenswert finden die Reitlehrer der Ü30er deren Wissensdurst. „Es herrscht ein ungemeiner Bedarf an Hintergrundwissen. Hier möchte sich keiner nur einfach aufs Pferd setzen. Auch Themen wie Fütterung, Wurmkuren und Ausrüstung sind von Interesse. Ferner wurde der Wunsch nach Stangen- und Bodenarbeit, anderen Reitweisen, sowie nach einer Gelassenheitsprüfung (GHP) laut. Da ist manches für unseren Verein auch Neuland“, beschreibt Reitlehrerin Annika Stahl ihre Erfahrungen. „So werden wir durch neue Ideen bereichert.“

Ziel: Entspannung auf dem Pferd

Alle Projektteilnehmer wurden im Vorfeld nach ihren Zielen befragt. Ganz eindeutig auf Platz Eins der Wunschliste: Ausreiten! „Nach meinem ersten Ausritt war ich begeistert. Danach wusste ich, Reiten ist für mich der richtige Sport, bei allen Schwierigkeiten und gelegentlichem Knieschlottern“, so Martina Kaemper aus Anröchte. Nicht wenige Reitvereine stellte der Wunsch nach Ausritten vor gewisse Schwierigkeiten. Es mangelte in manchen Ställen an Pferden, die auch mit ungeübten Reitern gelassen ins Gelände gehen. Einige Schulpferde sind so froh, ihrem „Hallenalltag“ entronnen zu sein, dass sie ihrer Freude mit Bocksprüngen und extremen Vorwärtsdrang Ausdruck verleihen. Viele sind Ritte durch das Gelände gar nicht gewohnt. Hier muss in der Ausbildung der Schulpferde noch eine Menge Arbeit geleistet werden.

Gerne im Gelände zu reiten bedeutet für die erwachsenen Einsteiger nicht, keine weiteren Ziele vor Augen zu haben. Viele absolvierten mit großem Fleiß den Basis- und Reitpass oder das Wanderreitabzeichen. Nur ganz wenige Ausnahmen hegten Turnierambitionen. „Wir suchen bei den Pferden Entspannung, wollen uns wohl fühlen und gemeinsam Spaß haben. Stress haben wir in Haushalt und Beruf genug“, bringt es Dagmar Laackmann auf den Punkt. „Außerdem habe ich keine Lust gegen meine eigenen Töchter anzutreten.“

Weitere Angebote geplant

Die Vereine, die sich an dem Pilotprojekt Ü30 beteiligt haben, sind nachhaltig begeistert und von der Wichtigkeit ihrer Arbeit überzeugt. Sie haben eine Menge neuer und zufriedener Reitschüler gewonnen, die sich auch gerne über den Unterricht hinaus für den Verein ehrenamtlich engagieren. „Wir haben klar erkannt, dass die Reiter „Ü30“ eine attraktive, aktive Zielgruppe ist. Viele Ü30ger nehmen Anfahrtswege von über 40 km in Kauf, weil ihr Heimatverein keinen Unterricht für sie bietet. Der Bedarf ist wirklich vorhanden“, so der Vorsitzende des Reitvereins Anröchte. „Wir werden auch weiterhin in unserem Vereinsleben die erwachsenen Reitanfänger im Auge behalten.“

So stehen im Jahresprogramm nun Programmpunkte wie gemütliche Ausritte, Reiterurlaub, Theorieabende, Bodenarbeit, Ausflüge zu Veranstaltungen rund ums Pferd und Grillabende. „Die Ü30er haben uns wirklich bereichert, wir waren sonst sehr stark auf Kinder- und Jugendarbeit und Turniersport ausgerichtet. Diese Bereiche sollen auch auf jeden Fall weiterhin gefördert werden. Aber wir werden nicht mehr an den Ü30er vorbei schauen, sondern uns auf sie einstellen“, so Reitlehrerin Alexandra Otholt. Hierzu verspricht Abteilungsleiter der FN Thomas Ungruhe praktische Hilfe: „Wir bleiben an dem Thema dran und werden weitere Angebote für Erwachsene entwickeln. Auch die Ausbilder werden für diese Zielgruppe sensibilisiert. Entsprechende Seminare sind in den Fachschulen und Verbänden angelaufen“, verspricht er. Damit nicht genug: „Wir arbeiten an einem Konzept „Ü50“, verrät Ungruhe.

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