Verhaltensstörungen beim Pferd: Auswirkungen von Koppen und Weben

Karin Meyer-Reike hatte sich auf den ersten Blick in den wunderschönen Paint-Horse-Hengst „Gamblers Bluegrass“, genannt „Billy“ verguckt. Bei so viel Liebe kann es passieren, dass man vergisst, beim Kaufgespräch die rosa Brille abzunehmen. Dass das Pferd von oben angebunden in der Box stand, erklärte sich die Rechtsanwältin damit, dass er wohl eben geputzt worden war. Dennoch fragte sie nach, ob er zum Koppen neige und bekam promt die Antwort „nein“.

Wenige Tage später stand er lauthals rülpsend in seiner neuen Box. „Ich habe natürlich überlegt, ob ich ihn zurückgeben soll“, erinnert sich Karin Meyer-Reike. „Aber er hatte einen so tollen Charakter und war so wahnsinnig leistungsbereit.“ Da kaum ein Stall den koppenden Hengst als Einsteller haben wollte, sah sich seine neue Besitzerin nach einer Möglichkeit um, Billy und ihre anderen Pferde selbst zu halten und zu versorgen. Sie fand einen separaten Laufstalltrakt mit viel Auslauf auf einem Hof in der Nähe. Hier durfte der damals neunjährige Hengst zusammen mit Meyer-Reikes Stuten herumlaufen und diese auch decken. Alle Stellen, die durch das Aufsetzen beim Koppen beschädigt werden könnten, wurden mit Holzteer eingelassen. Ansonsten, riet der Tierarzt, sei kein mechanisches Hilfsmittel nötig, so lange das Pferd keine Koliken bekam. Durch diese artgerechte Haltung hörte der Hengst zwar nicht ganz auf zu Koppen, unterließ es aber die meiste Zeit des Tages. Nur am Anbindebalken des Putzplatzes frönte er weiterhin seiner alten Gewohnheit.

[relatedposts type=’manu‘ ids=’5361,5446′]

Deutliche Abweichung vom arttypischen Verhalten

Koppen gehört wie das Weben, Kopfschütteln, Zähnewetzen und Kotfressen zu den typischen Verhaltensstörungen des Pferdes. Als Verhaltensstörung gilt kurzzeitige oder andauernde deutliche Abweichung vom normalen arttypischen Verhalten. Eine Handlung, die regelmäßig wiederholt wird, in ihrem Ablauf bis ins Detail fixiert ist und scheinbar sinnlos erscheint, wird Stereotypie genannt.

Rund fünf Prozent aller Pferde zeigen irgendwelche Arten von Stereotypien. Ähnlich wie bei Wildtieren, die in Zoogehegen ständig auf- und ablaufen, hat auch beim Pferd das Leben in der Domestikation diese „Zivilisationskrankheit“ verursacht. Kein Wunder bei einem Dasein, das vielfach auf drei mal drei Metern gefristet wird. In seiner Box legt ein Pferd durchschnittlich 0,17 Kilometer oder 578 Schritte täglich zurück, hat häufig kaum Sozialkontakt zu Artgenossen. Das entspricht in keiner Weise den Bedürfnissen des Steppentiers Pferd, welches zusammen mit seiner Herde etwa 16 Kilometer täglich läuft. Weil keine genetische Anpassung an Haltung und mangelhafte Beschäftigung stattgefunden hat, hatte die Tierart Pferd keine Möglichkeit zu reagieren, wie das sonst in der Evolution stattfindet.

Vor einigen Jahren untersuchte die Technische Universität München das Verhalten von Pferden in dauerhafter Ständerhaltung. 51 Prozent dieser Tiere zeigten Auffälligkeiten. Am häufigsten beobachtet wurden Weben und Koppen, aber auch Barrenwetzen, stereotypes Lecken sowie andere Varianten von gestörtem Verhalten: „Lippen-Ansaugen“, „stereotypes Kettenwippen“, „Ecke-Stehen“, Hypernervosität, Apathie und extreme Aggressivität. In den meisten Bundesländern ist die Ständerhaltung deshalb mittlerweile verboten. Nur in Bayern wird sie im Moment noch praktiziert, das Verbot soll aber auch hier kommen.

Ersatzhandlungen bei Langeweile

Im Gegensatz dazu treten Verhaltensstörungen bei Wildpferden kaum auf. Der Verhaltensforscher Professor Dr. Klaus Zeeb hat bei seinen Beobachtungen der Dülmener Wildpferde im Meerfelder Bruch kein einziges Tier mit Stereotypien erlebt. Die wild lebenden Pferde sind viel zu beschäftigt mit der Suche nach Nahrung und Trinkwasser und dem Überleben allgemein, um sich eine Anomalie im Verhalten zuzulegen. Das domestizierte Pferd in Einzelhaft hingegen starrt die meiste Zeit des Tages Löcher in die Luft.

„Das Erleben des Nicht-Bewältigen-Könnens dieser Dauersituation führt zu den Ersatzhandlungen, also zu den Stereotypien“, sagt Dr. Klaus Zeeb. Gegen den Begriff „Untugenden“ wehrt sich der Freiburger Zoologe seit langem vehement. Vielmehr müsse eine Stereotypie als „Selbsthilfe“ des Pferdes betrachtet werden. Während des Koppens, Webens oder Zähnewetzens werden vom Gehirn des Pferdes endogene Opiate ausgeschüttet, also körpereigene Substanzen, die das Pferd beruhigen. Außerdem verringert sich die Herzfrequenz. Auf diese Weise wird das Pferd besser mit der unerträglichen Stressituation fertig, die seine Haltungsbedingung ihm verursacht. Ein koppendes Pferd ist daher am ehesten mit einem drogensüchtigen Menschen vergleichbar. Auch die Therapie ist ebenso schwer wie bei einem süchtigen Menschen.

Medikamente, Kopperriemen und -Operationen lehnt Dr. Zeeb grundsätzlich ab: „Der Mensch hat laut Tierschutzgesetz die Verpflichtung, die Haltungsmängel abzustellen. Ich bin grundsätzlich der Auffassung weder chirurgische noch medikamentöse Einwirkungen zu unternehmen, die nur in den seltenen Fällen Besserung bringen, aber nicht heilen. Es müssen alle Anstrengungen unternommen werden, bestehende Haltungsfehler zu korrigieren und zum Beispiel auch einen Stallwechsel vorzunehmen.“

Keine Heilung möglich

Hat sich eine Stereotypie aber einmal etabliert, so kann diese häufig auch mit der besten Haltung und Fütterung nicht mehr zum Verschwinden gebracht werden. Selbst Pferde, die mittels eines Elektroschocks bestraft wurden wenn sie zum Koppen aufsetzten, begannen sofort wieder zu koppen, sobald keine Stromstöße mehr kamen. Dennoch wirbt derzeit eine amerikanische Firma in Deutschland mit einem Elektrohalsband, das sämtliche Formen von „unerwünschtem Verhalten“ kurieren soll.

Dann doch lieber so vorbeugen, dass erst gar keine Verhaltensstörung entsteht. Spätestens dann, wenn ein Pferd zu scharren und zu beissen beginnt, scheinbar sinnlose Kopfbewegungen macht oder nach imaginären Fliegen schnappt, sollten bei seinem Besitzer die Alarmglocken läuten. Umgekehrt gilt: Selbst wenn das Pferd noch keine Symptome zeigt, muss das nicht heißen, dass es mit seinen momentanen Lebensbedingungen einverstanden ist. Unter Umständen sind diese Pferde nur psychisch stabiler aber genauso gestresst. Laut der Veterinär-Chirurgischen Klinik der Universität Zürich gibt es eine genetische Prädisposition, also Veranlagung für Stereotypien. Auch Dr. Klaus Zeeb bestätigt bezüglich des Koppens: „Höher im Blut stehende Rassen sind mehr gefährdet.“

Deshalb ist die Zucht mit betroffenen Tieren heiß diskutiert. Karin Meyer-Reike hat mit ihrem Painthengst Billy trotzdem gezüchtet und ein Stutfohlen bekommen, das ihr Trainer sehr erfolgreich in Pleasure und Reining vorstellt. 2008 gewann sie sogar die PHCG Western Pleasure Futurity  „Die Kleine ist wie ihr Vater wahnsinnig arbeitswillig und hypersensibel“, erzählt Meyer-Reike. „Aber sie neigt dazu, sich zu langweilen, wenn sie unterbeschäftigt ist. Ich denke, auch sie würde koppen oder weben wenn sie nichts zu tun hätte.“

Die wichtigsten Verhaltensstörungen

  1. Weben: Das Pferd steht breitbeinig da und verlagert sein Gewicht von einem Vorderbein auf das andere. Dabei pendelt es mit dem Kopf von links nach rechts. Dass Weben den Beinen schadet konnte bisher nicht bestätigt werde. Viele Pferde weben zunächst nur vor Verabreichung des Kraftfutters oder wenn der Boxennachbar davongeführt wird.
  2. Koppen: Der Aufsetzkopper setzt die Schneidezähne bei stark gebeugtem Hals an einem Gegenstand auf, der Freikopper beugt den Kopf meist pendelnd gegen die Brust, lässt ihn wieder nach vorne schnellen. Durch Kontraktion der unteren Halsmuskulatur strömt Luft in die Speiseröhre. Dies verursacht das Koppergeräusch. Anschließend entweicht die Luft wieder lautlos durch den Rachen. Entgegen landläufiger Meinungen gelangt dabei nur sehr wenig Luft in den Magen. Ebenso wenig konnte jemals beweisen werden, dass Koppen ansteckend auf andere Pferde wirkt.
  3. Krippensetzen: Koppen ohne Anspannung der Halsmuskulatur
  4. Koprophagie: Kotfressen. Beim Fohlen normal wenn es sich um frischen Mist handelt. Damit eignet sich das Jungtier die Mikroorganismen der adulten Tiere an. Bei Koprophagie der erwachsenen Pferden sollte untersucht werden, ob ein Mangel an Rohfasern oder Proteinen vorliegt.
  5. Selbsttraumatisierung: Pferde beißen sich selbst in die Flanke, den Unterarm oder die Brust, häufig bei sexuell frustrierten Hengsten. Kann von Hautkrankheiten hervorgerufen werden, häufiger ist Bewegungsmangel.
  6. Boxenschlagen: Pferde schlagen mit Vordergliedmaßen oder Sprunggelenken an die Boxenwände. Als Folgen können Piephacken und Karpalschwämme entstehen. Kann ähnlich wie das Weben durch Fütterung oder Entzug des Boxennachbarn ausgelöst werden. Durch das Füttern wird das Pferd dann für das verhalten „belohnt“. Therapie: Unregelmäßige Fütterungszeiten.
  7. Kopfschlagen und –schütteln: rhythmische Bewegungen des Kopfes in vertikaler oder horizontaler Richtung. In wenigen Fällen sind organische Ursachen Auslöser für das Headshaking. Bei manchen Pferden löst helles Licht das Schütteln aus. Hier hilft Abdecken der Augen. Häufig intensivieren Pferde das Kopfschütteln wenn sie dadurch der Arbeit entgehen können.
  8. Zahnwetzen und Scharren: aufmerksamkeitsforderndes Verhalten bei Stress. Darf nicht belohnt werden – beispielsweise durch Füttern.
  9. Boxenlaufen: Pferde schreiten zwanghaft stundenlang in der Box hin und her. Besonders häufig bei Arabern.
  10. Zungenspiele: Kann durch falsches Reiten und drückende Gebisse ausgelöst werden. Geht nahtlos in eine Stereotypie über.

Kommentar verfassen