Es soll ein ruhiger Ausritt im Schritt werden. Sabine Lange*, mit 34 Jahren eine Späteinsteigerin, reitet erst seit einem halben Jahr. Es ist Winter, die Pferde trotten gemütlich durchs Gelände, die Reiter unterhalten sich. Sabine ist nicht ganz so konzentriert wie sonst. Deshalb vergisst sie, gleich aufzuschließen, als der Abstand zu ihrem Vorreiter größer wird. Als dieser in einer Biegung verschwindet, geht alles ganz schnell: Wiehernd und buckelnd galoppiert Sabines Wallach dem anderen Pferd hinterher. Sabine krallt sich fest, rutscht aus dem Sattel und denkt: „Du musst die Füße aus den Steigbügeln bekommen!“. Als sie durch die Luft geschleudert wird, ist sie fast erleichtert: „Super! Du hast deine Füße rausgekriegt!“ Dann schlägt sie hart auf den Rippen auf.
Im ersten Moment tut nichts weh. Sabine hieft sich wieder aufs Pferd und lacht mit den anderen darüber, dass sie ausgerechnet in einer Schrittrunde gestürzt ist. Als sie nach mehreren Minuten registriert, wie stark ihre Rippen schmerzen, sagt sie den anderen kein Wort, sondern hilft stattdessen noch bei der Stallarbeit, um nicht als Drückeberger zu gelten. Erst am nächsten Tag geht sie ins Krankenhaus, wo eine Rippenprellung festgestellt wird.
Außenwahrnehmung abgeschaltet
Kornelia Kuri, Heilpraktikerin, Reittherapeutin und Anti-Angst-Trainerin aus Karben erklärt, was Sabine während ihres Sturzes zugestoßen ist: „In so einem Moment wird die Außenwahrnehmung oft völlig ausgeschaltet. Man bekommt nicht mehr mit, was andere Leute rufen und ist völlig auf eine einzige Sache fokussiert – wie hier den Steigbügel.“ Typisch sei daher auch, dass viele Reiter vor dem Sturz immer wieder dasselbe Wort rufen wie „Ogottogottogott…!“. Bedrohliche Situationen quittiert der Körper mit einem Hormoncocktail, der zudem die Zeitwahrnehmung verändert. „Oft haben Leute daher den Eindruck, man sei bis zum eigentlichen Sturz 10 Minuten im Kreis galoppiert. Dabei waren es nur drei Galoppsprünge“, sagt Kuri. „Andere haben einen Blackout und können sich nicht mehr daran erinnert, wie sie auf den Boden aufgeschlagen sind.“
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Im Normalfall dauert es zehn bis 20 Minuten, bis der Körper die Stresshormone (Adrenalin, Cortisol, Noradrenalin) so weit abgebaut hat, dass der Gestürzte die Welt wieder halbwegs normal wahrnimmt. Deshalb spürte Sabine die Schmerzen erst wesentlich später, als sie längst wieder auf dem Pferd saß. Entgegen der landläufigen Meinung lässt Kornelia Kuri gestürzte Reiter niemals gleich wieder aufs Pferd: „Einen gefallenen, aufgeregten und schockierten Menschen, der vielleicht auch noch Schmerzen hat, mit diesen Gefühlen aufs Pferd zu setzen, ist Quatsch“. Erst nachdem sich die Starre des Reiters gelöst hat, seine Wahrnehmung wieder funktioniert, nachdem er eine Runde gelaufen ist, das Pferd geführt und Bodenarbeit gemacht hat, darf er wieder in den Sattel.
Zwischen Angst und Verzweiflung
März 2008 in Dresden: Sabine hat in der Reitschule einen Ausritt gebucht. Zum ersten Mal seit ihrem Sturz wagt sie sich wieder aufs Pferd. Doch der Geländeritt verläuft nicht wie geplant. Sabine bibbert vor Angst, krallt sich mit Händen und Beinen fest und macht alle Mitreiter und deren Pferde verrückt. Missmutig bleiben die anderen im Schritt. 1,5 Monate lang wird es so bleiben. Irgendwo zwischen Angst, Panik und Verzweiflung pendelt sich das Gefühl ein, das Sabine im Sattel hat. Sie geht zurück an den Anfang ihrer Ausbildung, nimmt wieder Longenstunden. Schafft sie es, ein Stück zu galoppieren, so schwebt sie danach stolz nach Hause. Doch die Angst greift um sich. Zur Reit-Angst kommt eine Pferde-Angst. Das merken auch die Tiere selbst. Ihr Lieblingswallach, der bisher beim Putzen nur hin und wieder die Zähne zeigte, stürzt jetzt mit weit geöffnetem Maul auf sie zu, wenn sie die Box betritt.
Auch wenn solche Erlebnisse unangenehm sind – Angst ist normal und sogar sinnvoll. „Ohne Angst hätten wir die Evolution nicht überlebt“, sagt Kornelia Kuri. „Sie ist das schnellste Gefühl, das der Mensch hat. Schneller als unsere Wahrnehmung.“ Evolutionär gesehen macht deshalb sowohl Sabines Reit-Angst als auch ihre Pferde-Angst Sinn: „Das Gehirn merkt sich eine gefährliche Situation. Es speichert alle dazugehörigen Erinnerungen gefühlszugeordnet wie in einer Bibliothek“, erklärt Kornelia Kuri. Das heißt, man geht nach dem Sturz wieder in den Stall und der ganze Kontext aus Unfall, Schmerzen, Versagen und vielleicht Spott stürzt auf einem ein. Wie der einzelne damit umgeht, ist verschieden. Die Natur hat dem Menschen drei typische Angstreaktionen mitgegeben: Erstens: „Angreifen! Sonst geht es mir an den Kragen!“. Zweitens: „Einfrieren! Lieber tot stellen, als entdeckt werden!“. Drittens: „Weglaufen! Schnell weg von der bedrohlichen Situation!“.
Manche Betroffene zeigen nur eine dieser Reaktionen, andere alle drei hintereinander in Kette. „Es gibt Leute, die schlagen bei Angst erst auf ihr Pferd ein, dann versteinern sie und am Ende springen sie runter“, weiß Kuri. Die Art der Reaktion hängt vom Grad der Angst und der Persönlichkeitsstruktur des Reiters ab. Diese wiederum setzt sich aus genetischen Aspekten und Lernaspekten zusammen. Wer also in seiner Kindheit ständig überbehütet wurde, wer eine Mutter hatte, die in jeder Reitstunde bangend und japsend am Bandenrand stand, der neigt später selbst zu heftigen Angstreaktionen. „Diese Leute haben oft ein Grundgefühl der Bedrohung, selbst wenn der Sturz nur in ihrem Kopf stattgefunden hat“, weiß Kuri aus den Erfahrungen in ihren Anti-Angst-Seminaren.
Zwei bis drei Prozent Angstfreie
Andersherum gibt es Extremsportler, Profireiter und Stuntmen, die so gut wie angstfrei sind. Häufen sich auch die Todesfälle in der Vielseitigkeit, so beteuern sämtliche Reiter in der Presse, dass sie sich davon nicht beeinflussen lassen. Alles nur Großspurigkeit? „Nein“, sagt Kornelia Kuri. „Diese Leute interpretieren Angst einfach anders. Wird es ihnen mulmig, so heißt das für sie nur, dass sie sich besser konzentrieren müssen. Auch die müssen nach einem Sturz durchatmen, aber es sieht nie so schlimm aus wie bei anderen Menschen.“
Wer nicht zu den glücklichen zwei oder drei Prozent Angstfreien gehört, muss an seinen Gefühlen arbeiten oder daran scheitern. Für Sabine kommt Aufgeben nicht in Frage. Sie fasst sich erneut ein Herz, bittet um ein anderes Pferd und outet sich im Stall: „Ich würde gerne dieses Pferd alleine putzen. Bitte bleibt dabei in der Nähe!“ Stallkameraden und Reitlehrer haben Verständnis, auch in einem Internetforum findet Sabine Gleichgesinnte. Sie suggerieren ihr: „Das ist normal. Es geht vielen wie dir!“ Das hilft. Nach einigen Monaten traut sie sich wieder in die Box des gefürchteten Wallachs. „Ich weiß, dass ich dir unheimlich bin“, hält sie innerlich Zwiesprache mit dem Pferd. „Lass uns dass hier jetzt durchziehen und es wird uns beiden besser gehen!“. Es funktioniert. So gut, dass Sabine bald sogar wieder auf den Rücken des Wallachs steigt. Beim Reiten hat sie ihre Angst mittlerweile im Griff. Neben dem Pferd wird ihr nur noch selten komisch zumute. Würde sie jetzt noch einmal stürzen, so könnte sie damit umgehen, glaubt sie.
Viele Pferdebesitzer, die bei Kornelia Kuri ein Seminar „Angstfrei Reiten“ belegen, sind noch nicht so weit wie Sabine. Die meisten sind von ihrem Sturz schwer traumatisiert. Traumatas zeichnen sich dadurch aus, dass der Mensch die entsprechende Situation im Moment des Geschehens nicht verarbeiten konnte. Manche steigen überhaupt nicht mehr auf, andere tun es verkrampft. „Weiterreiten hilft aber auch nichts, denn der Körper erinnert sich an die Schmerzen“, weiß Kuri. Bei der Traumata-Arbeit schaut sie sich deshalb genau an, welche „Filme“ bei dem Reiter im Gehirn ablaufen. Viele davon sind schlichtweg Fehlinformationen, die eine Reiz-Reaktions-Kopplung auslösen. Eine bestimmte Pferdebewegung, wie etwa ein Stolpern, wird dann als bedrohliches Durchgehen verstanden. Beim Reiter zieht das eine automatisch ablaufende Reaktion nach sich: er klammert mit den Schenkeln und reißt am Zügel. Diese Reaktion ist schneller als das Bewusstsein, kann also ohne Traumataarbeit nicht verhindert werden.
Hilfe durch NLP-Training
„Solche Konditionierungen kann man jedoch verändern“, sagt die Therapeutin. Dazu arbeitet sie mit den Teilnehnmern zuerst ohne Pferd. Das Training nennt sich „Neurolinguistisches Programmieren“, kurz NLP. „Neuro“ bezieht sich auf das Gehirn, in dem das Verhalten beheimatet ist. „Linguistisch“ bedeutet, dass es mit Sprache möglich ist, auf das Denken Einfluss zu nehmen. „Programmieren“ steht für das Verändern von Verhalten und Gefühlen.
Beim NLP-Training wird der Reiter mental in die Lage zu versetzt, den eigenen Körper dem des Pferdes anzupassen und damit die eigene Sicherheit wieder zu finden. Praktisch kann das so ablaufen: „Ich bringe den Teilnehmer verbal in einen Zustand, in dem alles in Ordnung ist, sage ihm, dass er gemütlich und sicher auf einem Stuhl sitzt“, beschreibt Kornelia Kuri. „Dann soll er noch einmal an die gefährliche Situation denken. Er wird sie in seiner Entspannungshaltung wesentlich weniger bedrohlich finden.“ Erst im nächsten Schritt arbeiten die Teilnehmer dann am Pferd.
Wie der einzelne im Alltag einen Sturz überwinden kann, lässt sich laut Kornelia Kuri nicht pauschal sagen. Wichtig sei jedoch in jedem Fall, sich schnell jemand Kompetenten zu suchen, der bei der Bewältigung des Erlebnisses hilft. Das kann ein einfühlsamer Reitlehrer sein, ein Anti-Angst-Trainer oder eine empathische, erfahrene Person im Reitstall. „Wenn Sie merken, dass ein Sturz Nachwirkungen hat, warten Sie nicht lange, bis Sie sich Hilfe suchen!“, rät die Therapeutin. „Die Dunkelziffer derer, die nicht weiterreiten, ist sehr hoch. Aber es ist nie gut, etwas aus einem Versagensgefühl heraus bleiben zu lassen!“
Kuri selbst landete einmal in einer Angstspirale, nachdem sie mehrmals im Gelände von ihrer Stute stürzte und dabei „echte Rillen in den Boden pflügte“. Bei der Bewältigung ihrer Traumatisierung bat sie einen Kollegen um Hilfe. Heute kann sie wieder völlig unverkranpft mit ihrer Stute ausreiten.
*Nachname geändert