Dr. Helmut Ende, der Baumeister und Erfinder des „Begehbaren Pferds“ bringt zu Seminaren auch mal Herzen, Gehirne und Därme mit. Am liebsten aber mutet er seinen Zuhörern frisch aufgetaute Beine von Schlachtpferden zu. Mit Hilfe einer riesigen Bandsäge schneidet der 73-Jährige einige Präparate diagonal auf, was Sehnen, Knochen und Gewebestrukturen sichtbar macht. Anschaulicher kann man einen Vortrag zum Thema Lahmheit nicht gestalten. Das Pferdebein bezeichnet er zuweilen als „Höhepunkt der Evolution“, und das nicht ohne Grund: „Es ist so stabil, dass ein Pferd darauf mit 60 km/h herumlaufen kann. Dabei werden die Stöße ständig gefedert“, schwärmt er. „Es regeneriert sich dauernd, wird täglich abgenutzt und wieder neu aufgebaut. Und je mehr Bewegung es hat, desto stabiler wird es.“
Immerhin 50 Millionen Jahre hat es gedauert, bis die Natur dieses Wunderwerk vollbracht hat. Aus dem fünfzehigen Waldbewohner wurde ein hoch spezialisierter Zehenspitzengänger – Steppenbewohner und Fluchtexperte. Deshalb sind alle Knochen im Pferdebein, im Vergleich zur menschlichen Hand, sozusagen eine Etage höher angeordnet. Das Vorderfußwurzelgelenk entspricht also keinesfalls unserem Knie, sondern unserem Handwurzelgelenk. Das Knie des Pferdes liegt nahe am Rumpf am Hinterbein. Der Huf entspricht unserem Mittelfinger. Die anderen Zehen sind ganz verschwunden oder haben sich stark zurück entwickelt. Reste davon sind noch heute an jedem Pferd zu finden: Griffelbeine gehören wie die Kastanien zu den sogenannten Rudimenten der Pferde-Evolution. Bei den Griffelbeinen handelt es sich um schmale längliche Knochen, die paarig an der Hinterseite der Röhre liegen und zum Bewegungsvorgang nicht mehr benötigt werden. Sie sind die verkümmerten Mittelfußknochen der rückgebildeten zweiten und vierten Zehe. Auch Kastanien, die ovalen Horngebilde an den Innenseiten der Beine, sind vermutlich Überreste einer verkümmerten Zehe. Esel haben nur an den Vorderbeinen Kastanien, im Gegensatz zum Pferd, das sie an allen Beinen aufweist.
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Wunderwerk Pferdebein
Das Phänomen Pferdebein verbirgt in seinem Inneren außerdem viele weitere kleine Wunderwerke: Da gibt es Sesambeine, die als Hebel für die Sehne fungieren, Schleimbeutel, die die Sehnen vor Abrieb am Knochen schützen, ein poröses Hufbein, das dennoch jede Menge Druck verträgt, weil es mit Lederhaut und Hornkapsel flexibel verbunden ist. Und nicht zuletzt Ellbogen und Kniegelenke, die gestreckt bleiben, während das Pferd im Stehen döst. Der Mechanismus, der hinter diesem ausgeklügelten System steckt, ist faszinierend: Die umgebenden Knochen und Bänder können die Gelenke sozusagen verschließen. Ab dem Vorderfußwurzelgelenk haben die säulenartig aufgebauten Vorderbeine außerdem nur noch Sehnen und Bänder, keine Muskeln, die erschlaffen könnten. An den Hinterbeinen kann das Pferd durch eine kurze Muskelkontraktion willentlich seine Kniescheibe blockieren. Sein Gewicht ruht dann hauptsächlich auf diesem Bein, während das andere entlastet ist und auf der Hufspitze steht. Nach ungefähr vier bis fünf Minuten wird das Bein gewechselt. Pferde verbringen ungefähr zwei bis drei Stunden täglich in dieser Haltung.
Dr. Ende jedoch ist am meisten von den Gelenkknorpeln im Pferdebein fasziniert. Sie sind perfekt auf den natürlichen Lebensraum des Flucht- und Lauftieres Pferd angepasst. Bewegt es sich den ganzen Tag grasend im Schritt, so werden die Knorpel von der Gelenkschmiere (Synovia) reichlich ernährt und in Form gehalten. Ähnlich wie bei einem Spülschwamm, den man im Wasser auswringt und wieder loslässt – eine Durchsaftung erfolgt. Durch das ständige Auf- und Abfußen saugen sich viele hundert Gelenkknorpel im Pferdekörper mit den lebenswichtigen Substanzen der Synovia voll.
Bei einem stehenden Pferd ist die Gelenkschmiere nicht flüssig sondern gallertartig. So verkümmern die Knorpel und schleifen sich bis auf die Knochen ab, wenn plötzlich doch Bewegung gefragt ist. Weil ein Gelenkknorpel keine Nerven besitzt, spürt das Pferd diesen Verschleiß nicht einmal. Bis die Erkrankung chronisch ist und Arthrose genannt wird. Am häufigsten kommen Arthrosen des Sprung-, Zehen-, und Hufgelenks vor. Dann spricht man von Spat, Schale und Podotrochlose.
Falsche Belastung als Ursache
„Gelenkschäden sind neben Sehnenschäden die häufigsten Lahmheitsursachen“, sagt Dr. Ende. Die Ursachen sind für beide Krankheiten recht ähnlich: Überbelastung, Fehlstellungen, falscher Beschlag, Konditionsmangel, falsche Fütterung und Reiten auf ungeeignetem Untergrund. Dadurch können überdies auch Gallen entstehen. Das Gelenk reagiert auf die falsche Belastung mit einer übermäßigen Produktion von Synovia. Dadurch entsteht Druck, der sich als unschöne Beule seitlich entlädt. Normalerweise fühlen sich Gallen weich an. In diesem Stadium sind sie eher Schönheitsfehler, denn sie bedeuten meist keine Schmerzen für das Pferd. Dennoch können sie aber vor Folgeschäden warnen und sollten dazu führen, dass der Besitzer die Ursachen abstellt. Wird eine Galle jedoch hart, so kann sie Schmerzen und Lahmheiten auslösen.
Um das Pferdebein gesund zu halten, sollte man jedes Pferd mindestens vier Stunden täglich bewegen, stellt Dr. Ende klar. „Am besten auf steppenähnlichem Boden wie in der Lüneburger Heide, nicht auf hartem Lehmboden, Acker oder Asphalt. Und ich spreche von richtiger Bewegung! Also entweder reiten, Führanlage oder gemeinsames Rennen auf der Weide zusammen mit jungen Pferden.“
Daneben muss alle sechs Wochen ein guter Schmied nach den Hufen sehen. Bei den meisten Pferden entsteht durch Bewegungsmangel in dieser Zeit eine zu lange Zehe, die dringend gekürzt werden muss, um Sehnenschäden und eine ungleichmäßige Belastung der Gelenke zu vermeiden. Vor allem in den unteren Gelenken des Pferdebeins kommt es oft zu Verschleißerscheinungen, die durch rechtzeitiges professionelles Ausschneiden verhindert werden könnten. Absolut kontraproduktiv ist laut Dr. Ende, wenn der Pferdebesitzer selbst an den Hufen herumfeilt: „Um das richtig zu machen, muss man ganz viel Wissen haben! Selbst junge Schmiede können das nach dreijähriger Ausbildung noch nicht und ein Laie erst recht nicht. Das ist als ob Sie sich von Ihrer Großmutter auf der Fensterbank ihren Blinddarm operieren ließen!“
Was man allerdings selbst machen kann: Täglich den Zustand der Sehnen an allen vier Gliedmaßen des Pferdes überprüfen. Heben Sie dazu einfach die Beine hoch, als wollten Sie die Hufe auskratzen und tasten Sie die Beugesehnen und den Fesselträger ab. Sie müssen deutlich von einander abgegrenzt sein, sich unter der Haut hin- und herschieben lassen und als weiche Stränge fühlbar sen. Druckschmerz, vermehrte Wärme und Pulsation sind Alarmzeichen, die auf ein Sehnenproblem hindeuten. Steht das Pferd auf allen vier Beinen, so müssen die Sehnen wie straff gespannte Seile aussehen.
Stellungsfehler erkennen
Einen ähnlichen Check können Sie auch dann durchführen, wenn Sie ein neues Pferd kaufen möchten und den Zustand seiner Beine beurteilen möchten. Die Fachtierärztin für Pferde Anke Rüsbüldt aus Hamburg rät allerdings: „Es ist sehr sinnvoll, vor dem Kauf das Pferd samt seiner Beine von einem Pferdetierarzt untersuchen und die Untersuchungsergebnisse in einem Protokoll festhalten zu lassen. Bei der reinen Betrachtung achtet man auf Stellungsfehler. Dazu benötigt man Erfahrung, sowohl beim Erkennen, wie beim Interpretieren.“ Eine zehenenge Stellung sei zum Beispiel in der Regel eher beeinträchtigend als eine zehenweite. Rüsbüldt: „Man betrachtet Form und Symmetrie – deutliche Überbeine oder verschiedene Hufformen oder unterschiedlich ausgeprägte Kruppenmuskulatur fallen jedem aufmerksamen Betrachter auf.“ Auch ein möglicherweise vorhandener Beschlag oder Spezialbeschlag sollte grundsätzlich hinterfragt werden.
Ansonsten erkennt man „gute“ Beine vor allem daran, dass ein Pferd sich „gut“ auf ihnen bewegt. Dabei werden die Beine gleich hoch angehoben und gleich weit gesetzt. „Ein gesundes Pferd bewegt sich auf grader und gebogener Linie lahmfrei“, erklärt Anke Rüsbüldt. „Es geht auf weichem und hartem Boden gleich gut und zeigt keine Schmerzen oder hakende Bewegung in der Wendung. Gut ist wie immer sehr relativ und abhängig vom Alter und Verwendungszweck zu beurteilen.“
Neben erworbenen Krankheiten können Pferde auch von Natur aus schiefe Beine haben. Fällt man ein Lot vom Ellbogengelenk des Vorderbeins nach unten, so sollte dieses von der Seite gesehen durch das Vorderfußwurzelgelenk und durch das Fesselgelenk verlaufen. Von vorne gesehen sollen die Gelenke ebenfalls genau übereinander stehen. Bei den meisten Pferden ist das aber nicht der Fall. Rund 50 bis 60 Prozent aller Pferde haben zumindest kleine Stellungsfehler (siehe unten). Die meisten führen zu einer Mehrbelastung der Gelenke und sollten daher vom Hufschmied dringend im Auge behalten werden. Andere sind weniger schlimm. Eine leicht säbelbeinige Haltung kommt zum Beispiel bei vielen Gebirgspferden vor und wird hier auf Grund der höheren Trittsicherheit in unsicherem Gelände toleriert und sogar in die Rassebeschreibung mit aufgenommen.
Stellungsfehler
Folgende Fehlstellungen können am Vorderbein auftreten:
- bodenweit: von vorne gesehen verläuft die Linie durch die Gelenke nicht senkrecht nach unten, sondern nach außen
- bodeneng: von vorne gesehen verläuft die Linie durch die Gelenke nicht senkrecht nach unten, sondern nach innen
- vorbiegig: von der Seite gesehen verläuft das Lot durchs Ellbogengelenk hinter dem Vorderfußwurzelgelenk
- rückbiegig: von der Seite gesehen verläuft das Lot durchs Ellbogengelenk vor dem Vorderfußwurzelgelenk
- vorständig: das Bein ist zwar in sich gerade, aber insgesamt nach vorne versetzt
- unterständig: das Bein ist in sich gerade, aber nach hinten (unter das Pferd) versetzt
Und das sind mögliche Fehlstellungen der Hinterbeine:
- fassbeinig: von hinten gesehen verläuft die Linie durch die Gelenke nicht senkrecht nach unten, sondern, meist o-förmig, nach innen
- kuhhessig: von hinten gesehen verläuft die Linie durch die Gelenke nicht senkrecht nach unten, sondern, meist x-förmig, nach außen
- vorständig: von der Seite gesehen verläuft das Lot durchs Hüftgelenk hinter Sprung- und Fesselgelenk
- rückständig: von der Seite gesehen verläuft das Lot durchs Hüftgelenk vor Sprung und Fesselgelenk
- säbelbeinig: von der Seite gesehen verläuft das Lot durchs Hüftgelenk vor dem Sprunggelenk und durchs Fesselgelenk
(Quelle zu „Stellungsfehler“: Wikipedia.de)