Reportage über den Schafabtrieb Rettir in Island

Im Schafstall des Hofes Teigur hallt es. Weil er blank gefegt ist und kein einziges Tier vor den verwitterten Holzraufen steht. Seit fast fünf Monaten sind die Schafe fort. Als im Mai die Lämmer kräftig genug waren, hat man sie mitsamt den Böcken und Mutterschafen hinaus in die Berge getrieben. Dort ziehen sie seither völlig auf sich allein gestellt durch das Hochland. Den Winter über sollen sie nun wieder ins Trockene gebracht werden. Seit Jahrhunderten machen die Isländer aus diesem Schafabtrieb Mitte September– in der Landessprache heißt er „Rettir“ oder „Göngur“ – ein Volksfest. Nachbarn, deren Farmen oft mehrere Kilometer von einander entfernt liegen, sehen sich zu weilen nur an diesen ein bis zwei Wochenenden im Jahr. Insgesamt weiden zwischen Lavafeldern und Vulkanen fast eine Million Schafe von 4000 Farmen. Um diese wieder zu finden, müssen die Bauern systematisch ein Gebiet von insgesamt 300 Quadratkilometern absuchen. Keine leichte Aufgabe.

Bauernsohn Gústi vom Hof Teigur zwischen Hvolsvöllur und Vik hat schon mehrmals den Rettir mitgeritten. Der 19-Jährige möchte später den Hof von seinem Vater übernehmen und konkurriert bei dieser Idee mit seinen drei Brüdern, die denselben Plan haben. Gústi schimpft gerne auf Menschen aus der Hauptstadt Reykjavik, die er „Städter“ nennt und hat einen Händedruck, der einem die Gelenkschmiere aus den Fingern quetscht.

„Wir sind frei und wir sind stark“, sagt er über seine Familie und sich. „Hier auf dem Land können wir gegen den Wind pissen und keinen stört’s!“ Das erste Grinsen auf dem schüchternen jungen Gesicht. Wenn wie so oft unter Teigur die Erde vibriert, dann rennen Gústi und seine Brüder hinaus ins Freie und feuern das Beben an, erzählt er nicht ohne Stolz.

Zäh und mit allen Wassern gewaschen

Was für die Menschen in diesem rauen Land gilt, gilt auch für die Pferde: Isländer sind zäh, ausdauernd und mit allen Wassern gewaschen. „Als das Auto nach Island kam, starben die Pferde fast aus“, weiß Gústi vom Unterricht an der Bauernschule im Norden. „Zum Glück gab es Initiativen zur Rettung der Ponys. Sonst hätten wir den Rettir gleich mit sterben lassen können.“ Denn für den jährlichen Schafabtrieb sind die Islandpferde nach wie vor unentbehrlich.

Gústis Rapp-Wallach heißt so wie er aussieht: Blakkur – Schwarzer. Ein stolzes Pony mit langem, wehendem Schweif. Sein Besitzer hat ihn mehr geputzt als sich selbst. Früh am Morgen geht es los in die Berge, ausstaffiert mit Schafswollpulli, Schlappohrenmütze und Gummistiefeln. Alle Söhne des Hofes Teigur reiten mit, dazu einige Nachbarn und Verwandte. Kinder und Nicht-Reiter laufen zu Fuß hinterher und bilden die Nachhut. Im flotten Tölt entfernt sich die Gruppe bald aus dem Sichtfeld des Fußvolks. Weil Gústi „jung und ungestüm“ ist, wie ein Nachbar findet, galoppiert er immer wieder gern von der Gruppe weg und hält von nahegelegenen Berggipfeln Ausschau nach Schafen. Schon treibt die Reitergruppe eine kleine Herde missmutig dreinblickender Wollknäuel vor sich her. Auch ich darf mitmachen – der junge Fuchswallach Álfur ist schon ein alter Hase in punkto Rettir. Er steckt Anfänger wie mich locker weg.

Im Laufe des Sommers haben sich die Schafe nicht nur in alle Winde zerstreut, sondern auch eigene kleine Verbände gegründet. Diese halten sich überall auf – in den Ebenen und Tälern aber auch zwischen felsigen Schluchten und an für Pferde unzugänglichen Bergwänden. Wenn immer es den Reitern möglich ist, Schafe zu erreichen, so wird das auch probiert – notfalls zu Fuß oder mittels gefährlicher Kletterpartien. Nur vereinzelte Böcke, die sich absolut unerreichbar in steilen Felsnischen verschanzen, lässt die Gruppe links liegen. Entweder werden sie an einem anderen Tag gefangen oder sie müssen den Winter über draußen bleiben. Da Island durch den warmen Golfstrom einen relativ milden Winter hat, stehen die Chancen für so ein verlorenes Schaf nicht schlecht.

Schritt zum Treiben, Tölt zum Einfangen

Beinahe den ganzen Tag über bewegt sich die Reitergruppe im Schritt oder im Tölt vorwärts. Schritt zum Treiben, Tölt zum Einfangen flüchtender oder neu dazu stoßender Schafe. Unentbehrlich sind dabei auch die isländischen Hütehunde, die jede Bewegung eines Schafes vorausahnen und geschickt deren Hörnern ausweichen.

„Die wichtigste Eigenschaft eines guten Pferdes ist seine Trittsicherheit“, sagt Gústi. Im Gegensatz zu den meisten deutschen Reitern setzen Isländer nämlich voraus, dass ein Pferd unbeschadet kilometerweit über bemoste Lavafelder und Schotterwege tölten kann. Und tatsächlich hat keines der Pferde ein Problem mit dem unwegsamen Gelände. Eine Eigenschaft, die für den Reiter noch heute überlebenswichtig ist, denn das Landesinnere von Island ist so gut wie gar nicht bevölkert. Neun Monate im Jahr sind hier sogar die Straßen gesperrt. Die Chance, innerhalb eines Tages auf eine bewohnte Hütte mit heißer Suppe über dem offenen Feuer zu finden, sind äußerst gering.

Gegen Mittag macht die Gruppe einmal kurz halt. Es gibt ein sehr schnelles Essen in Form von Butterbroten. Dazu kreist die erste Schnapsflasche mit Selbstgebranntem. Auch das ist Tradition: Feucht-fröhlich muss er sein, der Rettir! Am frühen Nachmittag haben die Reiter vom Hof Teigur rund 200 Schafe zusammengetrieben. Das sind längst nicht nur die eigenen Tiere. Anhand der Ohrmarken ist leicht zu erkennen, wem die Schafe gehören. Jede Farm hat ihre eigene Kennzeichnung. Diese ist in einem so genannten „Markabok“ aufgelistet, einem Verzeichnis, das im Streitfall die Besitzrechte an einem Schaf klären soll.

Auf dem Rückweg treffen die Reiter diejenigen Helfer wieder, die zu Fuß aufgebrochen waren. Mit viel Körpereinsatz und Geduld haben auch sie eine kleine Herde Schafe zusammengetrieben. Die letzten Kilometer stemmt man sich nun gemeinsam gegen den peitschenden Regen, der auf Island wegen des starken Winds fast immer waagrecht daherkommt. Einige Männer singen lauthals Volkslieder und reichen die Schnapsflasche von Pferd zu Pferd weiter. Auch die Infanterie darf mal nippen.

Aussortierung anhand der Ohrmarken

Die Reise endet nach sieben Stunden vor einem runden Korral, der von oben wie eine Pizza aussieht. Die Schafe werden in den inneren Bereich getrieben, der einem sehr großen Longierzirkel ähnelt. Außen schließen einzelne Paddocks an. Für jede Farm im Umkreis gibt es einen. Anhand ihrer Ohrmarken werden die Schafe identifiziert und in die jeweiligen Paddocks geschoben, getragen oder geschleift. Von dort aus werden sie auf Kleinlaster verladen und zu ihrer Heimatfarm oder direkt in den Schlachthof gefahren.

Bauernsohn Gústi scheint das Sortieren mindestens genau so viel Spaß zu machen wie der Abtrieb selbst. An Hörnern und Beinen packt er die zappelnden Schafe und wirft sie kurzerhand über die hölzernen Tore der Paddocks. Mit hochrotem Kopf erklärt er: „Beim Sortieren macht einfach jeder mit! Das ist der Höhepunkt des Tages!“ Schon ganz kleine Kinder versuchen Schafe an den Hörnern durch den Pferch zu ziehen und landen dabei im Matsch. Ihre Mütter lachen nur und schenken weiter Tee und Kaffee aus – jeweils mit einem guten Schuss Schnaps gegen die Kälte versteht sich.

Wenn hinter dem Rundpferch die Sonne untergeht, sind alle Schafe verladen und abtransportiert. Morgen geht es wieder hinauf in das wilde Hochland. Aber was ein rechter harter Kerl ist, der findet an diesem Abend keine Ruhe. Nur Touristen und Städter fallen nach dem Rettir erledigt ins Bett. Jungs wie Gústi ziehen nach dem traditionellen „Rettir-Eintopf“ Kjötsúpa noch lange um die Häuser – sofern es in erreichbarer Nähe welche gibt. Dort essen sie noch mehr Kjötsúpa und spülen das zarte Hammelfleisch mit Hochprozentigem hinunter. Ihre Lieder handeln in dieser Nacht fast nur von Pferden.

Kommentar verfassen