Starporträt Dorothee Schneider

Es gibt eine Geschichte, die klar macht, was für ein Mensch Dorothee Schneider ist: Damals im August 2012, als die erfolgreiche Dressurreiterin mit der Mannschafts-Silbermedaille aus London zurückkehrte, warteten zwei Empfangskomitees in ihrem Heimatort Framersheim auf sie. Eines stand am Ortseingang, das andere auf ihrem Hof, dem Gestüt St. Stephan. Dorothee Schneider wusste von nichts und verbrachte die Anfahrt damit, ihren Mann Jobst Krumhoff anzurufen und Anweisungen zu verteilen, welche Berittpferde geputzt und gesattelt werden sollten. „Immerhin war ich mit einem einzigen Pferd drei Wochen lang weg gewesen und hatte meine Kundenpferde nicht geritten“, erklärt sie. Erst als sie sah, dass mehrere hundert Gratulanten mit Deutschlandfähnchen und strahlenden Augen auf sie warteten, gab sie ihren Plan auf. „Da habe ich gemerkt, dass ich wirklich erst mal feiern sollte“, gesteht die 44-Jährige.

Zielstrebigkeit, Pflichtbewusstsein, Konsequenz.

Wer gleichzeitig eine funktionierende Gestüts- und Reitanlage leiten und sich den Traum seines Lebens erfüllen möchte, kommt nicht umhin, jede Stunde genauestens zu verplanen. Einen „Spagat“ nennt Schneider das. In der Praxis bedeutet es: Ihr Tag beginnt um 6.30 Uhr auf dem Traktor in der Reithalle und endet nachts beim Briefeschreiben im Büro. Dazwischen fährt sie einmal pro Woche zum Gestüt Peterhof an der luxemburgischen Grenze, wo sie den Beritt und das Training der Pferde übernommen hat. Die Sommerwochenenden sind mit Turnieren besetzt und im Winter gibt sie Lehrgänge oder bringt das Büro auf Vordermann. Aber da bleibt hin und wieder zumindest die Gelegenheit, die Beine hochzulegen. Wenn nicht gerade eine Arbeit auf dem Hof ansteht, was eigentlich immer der Fall ist. „Mein Mann und ich machen ständig irgendwas“, sagt Dorothee Schneider. Außer Sonntagabend. Da gucken sie Tatort. „Nur wenn die Kritiken richtig schlecht sind, schalte ich um auf ZDF Herzschmerz“, fügt sie lachend hinzu.

Das Lachen ist kurz, aber es kommt von ganz unten. Eigentlich ist Dorothee Schneider eine Frau, die ständig funktioniert, hochgradig professionell arbeitet und sich dabei völlig unter Kontrolle hat. Was sie so sympathisch macht, sind die kleinen Ausreißer zwischendrin. Ein ironisches Schmunzeln, ein flapsiger Kommentar, ein auflockernder Witz. So gewinnt sie die Herzen ihrer Kunden und Geschäftspartner.

Die ihres Teams hat sie schon. Ihre Azubis und Bereiterinnen nutzen jede Gelegenheit, ihrem Idol beim Training in der Reithalle zuzuschauen und Tipps von ihr zu erhalten, während sie selbst ein Pferd vorbereiten. Jeden Vormittag von neun bis 14 Uhr steht Reiten auf dem ausgefeilten Plan, den Dorothee Schneider täglich neu in der Stallgasse aufhängt. Darauf ist auch vermerkt, wer wann wen füttert und putzt, wer die Stallgasse fegt und was vor dem nächsten Pressetermin erledigt werden muss. Bevor es auf die Pferde geht, haben die Mitarbeiterinnen schon den Stalldienst und die erste Fütterung hinter sich gebracht. Außerdem haben sie ein Frühstück im Bauch. Im Gegensatz zu ihrer Brötchengeberin. „Ich esse morgens nichts“, gibt Dorothee Schneider zu. „Gegen zehn trinke ich einen Kaffee und zwischendrin esse ich mal ein Brötchen. Aber warm gekocht wird bei uns erst spät am Abend, wenn mein Mann nach Hause kommt.“

Jeden Morgen: Acht bis zehn Pferde

Im Dreiviertelstundentakt reitet sie dann ein Pferd nach dem anderen. Zwischen acht und zehn sind es jeden Morgen. Einige Grand-Prix-Sieger, aber auch Nachwuchspferde, die noch in Bezug auf Balance, Rückentätigkeit und Geraderichtung geschult werden müssen. „Mir ist wichtig, dass junge Pferde in einer von Anfang an positiven Atmosphäre ausgebildet werden“, sagt Schneider. „Deshalb geht es mir zunächst vorwiegend darum, dass sie den Hals fallen lassen und sich an die Hand heran dehnen. Ich gebe sehr viele Rückmeldungen über Lob, damit die Pferde spüren: Ich mache es richtig! So bleiben sie motiviert.“

Was für die Jungpferde gilt, bekommen auch Pferde wie der achtjährige Wallach Ullrich Equine’s St. Emilion noch zu spüren, obwohl sie bereits in die Königsklasse vorgestoßen sind. Der elegante Dunkelbraune übt heute mit seiner Reiterin Piaffen und Passagen. Unterstützt wird das Paar dabei von Trainer Hans Riegler, dem ehemaligen Oberbereiter der Wiener Hofreitschule. Er schnalzt den Takt der einzelnen Tritte mit und touchiert das Pferd von unten mit der Gerte am inneren Hinterbein. „Sehr schön, Doro, gut, gut gut!“, kommentiert er im Rhythmus der Bewegung. „Wir sind ein tolles Team“, erzählt Riegler. „Ich weiß immer ganz genau, wann Dorothee ihre Hilfen gibt. Es macht Spaß, mit ihr zu arbeiten.“

Spaß ist das Zauberwort. „Wenn er verloren geht, wenn der Umgang mit dem Pferd zur Routine wird, dann hat mein keinen Erfolg mehr“, glaubt Schneider. „Bei diesem Sport ist so viel Herzblut und Emotion dabei – ohne geht es nicht!“

Deshalb hält sie sich zum Reiten immer den Kopf frei. Sitzt die Silbermedaillien-Gewinnerin auf einem Pferd, so reitet sie auch. Dann wird für die Dauer einer Trainingseinheit erst einmal unwichtig, wie viel Post noch im Büro zu bewältigen ist. Oft reitet sie bis kurz vor der Abfahrt zu einem Turnier noch ein Pferd und kommt daher als letzte zum Vet-Check. Sie weiß immer genau: Wann muss ich spätestens losfahren, um das noch zu schaffen. Und trotzdem ist jedes ihrer Pferde vor dem Start optimal vorbereitet. „Ich will am nächsten Tag nicht sagen müssen, dass die Prüfung schlecht gelaufen ist, weil ich das Pferd nicht noch ein paarmal ums Viereck geritten habe“, stellt Schneider klar.

Eingerahmte Silbermedaille

Der „Spagat“ zwischen dem Betrieb und der internationalen Dressurreiterei fordert so manch einen Tribut. Doch genau aus diesem Grund ist er auch von Erfolg gekrönt: Jedes vermauerte Fenster der Reithalle ist wie ein Bild mit Schleifen gefüllt. Das Büro steht voller Pokale. Man hat fast den Eindruck, Dorothee Schneider wüsste nicht mehr, wohin mit dem Zeug. Einzig ihre lichte Privatwohnung oben über dem Gestüt ist nahezu frei von Trophäen. Hier findet man nur eine einzige, doch die wirkt umso glanzvoller: Die Silbermedaille aus London, eingerahmt mit einem Bild, das die Reiterin auf dem olympischen Siegertreppchen zeigt. Gefragt, was sich seit diesem Tag in ihrem Leben verändert hat, antwortet Schneider schlagfertig: „Das!“. Und zeigt ihr kurzes Lächeln, bevor sie wieder ernst wird.

Tatsächlich ist seither vieles anders. Die zahlreichen Anfragen für Berittpferde, die nun ständig bei ihr eingehen zum Beispiel – „nicht nur Qualität, auch Quantität“. Aber die größte Veränderung hat in Dorothee Schneider selbst stattgefunden. „Ich habe an Stärke gewonnen, die mir nie mehr weggenommen werden  kann“, sagt sie. „Man weiß ja nie, was Olympia mit einem macht. Wenn man es dann schafft, vor 28.000 Zuschauern und laufenden Kameras mit einem Lächeln im Gesicht ins Viereck zu reiten, dann prägt einen das sehr.“

Ein Verdienst, der unter anderem ihrem Mentaltrainer, dem Hochsprung-Senior Carlo Thränhardt zu verdanken ist. Die Gespräche mit ihm im Vorfeld des Starts gaben Schneider Sicherheit. „Der ruht in sich selber“, erzählt sie. „Und er hat mir von seinen eigenen Erfahrungen und Fehlern erzählt, was mir sehr viel gebracht hat.“ Davon zehrt Dorothee Schneider noch heute.

Früher wollte sie Tierärztin werden

Aber zurück zum Tagesablauf auf dem Gestüt St. Stephan. Während die Mitarbeiterinnen von 14 Uhr bis 16.30 Uhr in die Mittagspause gehen, widmet sich ihre Chefin entweder der Arbeit im Büro oder kümmert sich um andere Belange des Gestüts. Auch Vorreittermine mit Kunden und Verkaufspferden legt sie in diese Zeit, wenn „endlich mal ein bisschen Ruhe eingekehrt ist“. Bei der Betriebsbuchführung hilft ihr nach wie vor ihr Vater Hans Eberhard Schneider. Der Dipl-Agraringenieur war früher selbst als Dressurreiter und Richter aktiv. Auf dem ersten Hof der Familie, der Domäne Mechthildshausen bei Wiesbaden, war er noch die leitende Hand. Später, nach dem Umzug nach Framersheim übernahm mehr und mehr seine Tochter den Betrieb. Aus diesem Grund verwarf Dorothee Schneider auch ihren ursprünglichen Plan, Tierärztin zu werden und absolvierte nach dem Abitur stattdessen eine Lehre als Bankkauffrau. „Ich wusste schon damals, dass ich beruflich mit Pferden arbeiten wollte und dass ich nicht auf Dauer in der Bank sein würde“, erzählt sie. „Aber ich wollte den Betrieb auch wirtschaftlich gut im Griff haben und dafür hat mir die Ausbildung viel gebracht – auch wenn sie mir nicht richtig Spaß gemacht hat.“ Ein kurzes Schmunzeln.

Anschließend lernte sie im elterlichen Betrieb Pferdewirtin Zucht und Haltung, machte ihren Bereiter als Seiteneinsteigerin und schaffte auch die Meisterprüfungen in beiden Bereichen und bekam das Goldene Reitabzeichen verliehen. Schon vor ihrer Banklehre ließ sie sich zudem zum Besamungswart schulen, um schließlich im Jahr 2000 den Betrieb mit allen nötigen Kompetenzen zu übernehmen.

Ein beeindruckender Werdegang für ein Mädchen, das einst mit roten Straßenstiefeln reiten lernte, weil es keine eigenen Reitstiefel hatte. Das sich jede Trainingseinheit von ihrem vielbeschäftigten Vater hart erkämpfen musste und die selbstgezogenen Trakehner erfolgreich bis zum Grand-Prix-Niveau vorstellte. Ihr erstes Grand-Prix-Pferd, der Hengst Van Deyk, wird demnächst 30 Jahre alt und genießt inzwischen bei bester Gesundheit seinen wohlverdienten Ruhestand. Auch für den Deckeinsatz steht er nicht mehr zur Verfügung. Dafür gibt es jede Menge Streicheleinheiten von seiner Besitzerin, ausgedehnte Spaziergänge mit Pflegerin Marisa und das eine oder andere Mittagsschläfchen außer der Reihe. Die Arbeit obliegt nun seinem Sohn Kaiserkult und Nachwuchspferden wie Ullrich Equine’s St. Emilion, Silvano, Derano, Showtime, Amadelio und der Westfalen-Stute Forword Looking, die nach ihrer Verletzung im letzten Sommer von allen Gestütsmitarbeiterin liebevoll aufgepäppelt und verhätschelt wurde. „Ein besonderes Pferd mit einem besonderen Charakter“, sagt Bereiterin Ronja und küsst die Stute auf die Nase.

Der Traum von Rio

Gleich wird es dunkel, dann ist der Abendstalldienst dran. Nach dem letzten Rundgang mit Mashfütterung und dem Abschließen der Ställe kehrt dann endlich Ruhe ein auf dem Gestüt St. Stephan. Dann darf vielleicht auch Dorothee Schneider mal ausruhen, wenn sie großes Glück hat. Bestimmt träumt sie in solchen Momenten von der Olympiade 2016 in Rio de Janeiro. Zumindest gibt sie schon mal zu, dass sie beim letzten Mal „Blut geleckt“ hat. Drei bis vier ihrer Pferde hätten die Möglichkeit, im großen Sport Fuß zu fassen. Doch bis dahin könne noch viel passieren. „Wer das Rennen macht, wird sich noch weisen“, sagt Dorothee Schneider so beherrscht, wie man das von ihr gewöhnt ist. Aber dann blitzt es in ihren Augen und das kleine Schmunzeln stiehlt sich auf ihr Gesicht. „Das wäre schon was … Rio!“

 

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