Reiten als Gesundheitssport

Unsere Zeit ist geprägt von zunehmender Mechanisierung und Automatisierung. Neue Techniken nehmen uns körperliche Anstrengungen ab. Wir werden körperlich immer untätiger. Dabei sind wir, wie die Jäger und Sammler, nach wie vor Bewegungstiere. Unser genetisches Material hat sich gegenüber dem Steinzeitmenschen kaum verändert. Zivilisationskrankheiten wie Haltungsschwächen, Übergewicht oder Herz-Kreislauferkrankungen nehmen besorgniserregend zu; Tendenz weiter steigend.

Reitsport bietet gute Möglichkeiten, der Bewegungsarmut zu begegnen. Schon allein der Umgang mit dem Pferd bringt Bewegung ins Leben. Bevor der Reiter überhaupt in den Sattel steigen kann, hat er schon ein gutes Bewegungsprogramm absolviert: Box misten, Schubkarre zum Misthaufen und wieder zurück schieben, Pferd von der Koppel holen, Pferd putzen, Sattel und Trense holen, Pferd auf den Reitplatz führen, vorm Aufsteigen einige Runden führen, Sattelgurt nachziehen, auf Aufsteighilfe steigen. Mehr als 700 Meter hat der Reiter sicherlich zurückgelegt. Und das Schönste: Diese Bewegung machen wir gerne; wir bewegen uns gerne für und mit dem Pferd. Wir empfinden die Bewegung nicht als Belastung, sondern als Freude. Pferde sind faszinierend. Sie sind groß, edel, sanft und uns wohl gesonnen. Pferde lassen uns ihre Zuneigung spüren. Diese positiven Emotionen tun uns einfach gut. Vor allem, wenn unser Alltag geprägt ist von Leistungsdruck und Unverbindlichkeit. Für Pferde setzen wir uns gern in Bewegung, während es sonst meist „negative Motivationen“ sind, die uns zu mehr Bewegung veranlassen: Der Blick auf die Personenwaage oder das besorgte Gesicht unseres Arztes.

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Pferde bringen Menschen auf Trab

Aus zwei Gründen gewinnt das Thema „Gesundheit“ im Reitsport immer mehr an Relevanz. Zum einen, weil Pferde besonders gute „Bewegungsmotivatoren“ sind, die Menschen auf Trab bringen; und zum anderen, da die Zivilisationskrankheiten vor der Reithallentür nicht Halt machen. Darauf sollten Reitlehrer angemessen reagieren können. Es darf im Reiterunterricht nicht außer Acht gelassen werden, wenn ein Schüler unter Bluthochdruck, Übergewicht oder einem Haltungsschaden leidet. Reitsport bietet wunderbare Möglichkeiten Kraft, Ausdauer und Beweglichkeit jedes Menschens zu verbessern. Dabei spielt es keine Rolle wie alt der Reiter ist und auf welchem reiterlichen Niveau er unterwegs ist. Die Ausbildung „Reiten als Gesundheitssport“ verhilft Ausbildern dazu, die gesundheitsfördernden Aspekte des Reitsports für ihre Kunden nutzbar zu machen.

Birgit Voggenreiter aus Wuppertal ist Trainerin A (FN) und hat 2001 Die Prüfung zum „Reiten als Gesundheitssport“ absolviert. „Das Gelernte kommt mir nicht nur in speziellen Angeboten zu Gute, mein gesamter Reitunterricht profitiert davon“, erzählt die 42-Jährige.

So ist Aufwärmen vor jeder Reiteinheit in den Ställen von Trainern „Reiten als Gesundheitssport“ wie Marie-Theres Steinmeier und Birgit Voggenreiter vollkommen selbstverständlich. „In keiner anderen Sportart wird das Aufwärmen so vernachlässigt wie im Reitsport“, beobachtet Marie-Theres Steinmeier. Sie ist im Vorstand der „Bundesvereinigung Reiten als Gesundheitssport e.V.“. „Das Pferd wird gut vorbereitet. Das heißt, es wird geputzt, fleißig Schritt geritten und gelöst, bevor es sportlich stärker beansprucht wird. Der Reiter hingegen sitzt nicht selten stocksteif und völlig durchgefroren im Sattel. Das ist ein absolutes No-Go!“ Jeder sportlichen Aktivität sollte eine vorbereitende Aktivierung des Körpers vorausgehen. Und zwar aus folgenden Gründen:

Durch das Aufwärmen

  • wird das Herz-Kreislaufsystem auf die körperliche Belastung vorbereitet
  • wird die Durchblutung der Muskulatur vermehrt und so die Versorgung der Muskeln mit Energie verbessert
  • werden die Gelenke mobilisiert und „geschmiert“
  • wird das vegetative Nervensystem aktiviert und so die Aufmerksamkeit erhöht; Bewegungen können präziser ausgeführt werden
  • werden die Sinnesrezeptoren empfindlicher, was die Koordination verbessert

Durch die vorbereitende Aktivierung des Körpers steigern wir zum einen unsere Leistungsfähigkeit, zu anderen ist Aufwärmtraining eine unverzichtbare Verletzungsprophylaxe. Aufgewärmte Reiter sind beweglicher und können so auf unerwartete Bewegungen des Pferdes besser eingehen. Deshalb fallen sie seltener vom Pferd und wenn, dann können sie zumindest leichter „abrollen“.

Aufwärmtraining kann mit und ohne Pferd stattfinden. In der Regel sollten mindestens zehn Minuten für das Aufwärmprogramm veranschlagt werden. Zum Aufwärmen ohne Pferd eignen sich verschiedene Laufvariationen. Zum Beispiel:

  • im Wechsel gehen, walken, laufen
  • im Laufen die Arme vorwärts und rückwärts kreisen
  • Hosperlauf
  • Seitsteps
  • Rückwärts gehen/laufen
  • auf einem Bein hüpfen
  • Dehnübungen

Auch Übungen mit einem Ball sind ein geeignetes Aufwärmprogramm, das zudem die koordinativen Fähigkeiten und Reaktionsschnelle fördert. Der Spaß kommt dabei auch nicht zu kurz. Eine Übung für Fortgeschrittene: Werfen Sie sich auf einem Bein stehend den Ball zu.

Selbstverständlich kann man sich auch auf dem Pferd aufwärmen. Allerdings müssen Pferde behutsam an Aufwärmgymnastik gewöhnt werden! Zur Sicherheit werden sie in dieser Phase geführt. Im Sattel kann sich der Reiter mit folgenden Übungen vorbereiten:

  • Bewusstes Mobilisieren aller Gelenke vom Fuß- bis zum Okzipitalgelenk (Hinterhauptgelenk)
  • Dehnübungen
  • Arm- und Schulterkreisen vorwärts und rückwärts
  • Hände im Wechsel mit gestreckten Armen nach oben greifen lassen (Apfelpflücken)
  • Oberkörper zur Seite drehen (dabei bleiben Gesäß und Becken im Sattel)
  • Rumpfdrehen mit weggestreckten Armen (90 Grad, Handfläche nach oben)
  • Diagonales Greifen (die rechte Hand wird zum linken Steigbügel geführt)
  • Bein schwingen
  • Einsatz von Therabändern und Bällen

In den Genuss von Aufwärmgymnastik kommen in Everswinkel und Wuppertal alle Reitschüler, egal ob sie vier Jahre oder über siebzig Jahre alt sind.
„Ich unterscheide drei Gruppen, die von meinem Wissen um „Reiten als Gesundheitssport“ profitieren“, berichtet Birgit Voggenreiter. „Da sind die „Nichtreiter“, die von ihrem Physiotherapeuten geschickt wurden, dann erwachsene Wiedereinsteiger, die ganz bewusst anders reiten lernen möchten und schließlich im Grunde alle meine Reitschüler. Denn ich kann auf ihre körperlichen Besonderheiten gezielt Rücksicht und Einfluss nehmen.“

Die Reitlehrerin erzählt von einer jugendlichen Dressurreiterin, die in der letzten Zeit enorm schnell gewachsen ist. „Mit jedem Wachstumsschub ändert sich das Körper- und damit auch das Reitgefühl“, weiß Birgit Voggenreiter. Um der Vierzehnjährigen zu einem guten Körpergefühl zu verhelfen, arbeitet die Reitlehrerin besonders an der Körperwahrnehmung ihrer Schülerin. Außerdem beobachtet die Ausbilderin, dass vor allem bei Sportreitern, die keinen gezielten Ausgleichssport betreiben, es zu Muskelverkürzungen – vor allem im Bein-, Rücken- und Brustmuskelbereich – kommt. Nicht selten sind Nacken- und Brustmuskulatur verspannt, was zu einer Unbeweglichkeit des Beckens führt. Auch zu stark ausgeprägte Adduktoren (Teil der Oberschenkelmuskulatur) verhindern einen losgelassenen Sitz. Um dem vorzubeugen empfiehlt sie regelmäßige Dehnübungen, aber auch gezieltes Schwimmtraining und Aquagymnastik.

Reiten wegen „Rücken“

„Ich interessiere mich überhaupt nicht für Pferde und reiten lernen möchte ich auch nicht. Mein Physiotherapeut meint, reiten sei gut für mich.“ Mit diesen Worten kommt Andrea W., 36 Jahre alt, in die „Ponyoase“ und begrüßt Birgit Voggenreiter. Andrea W. hat „Rücken“. Die Beweglichkeit ihrer Lendenwirbelsäule ist eingeschränkt. Auch Marie-Theres Steinmeier hat regelmäßig „Rückenkunden“.

„Da die meisten Menschen durch ihren Beruf „krumme Dauersitzer“ sind, belasten sie ihre Bandscheiben falsch und bekommen Rückenschmerzen“, weiß die 59-Jährige aus Everswinkel. „Selbstverständlich reicht Reiten allein nicht aus. Ich zeige meinen Kunden ganz gezielt, wie sie ihren Rücken im Alltag entlasten können.“ Das beginnt mit dem rückenschonenden Aufheben von Gegenständen und hört bei rückenschonendem Stausaugen noch lange nicht auf.

„Auch alle Aktivitäten rund um das Pferd sollten immer rückenschonend ausgeführt werden“, betonen die Trainer „Reiten als Gesundheitssport“. Beim Hufe auskratzen, Schubkarre umkippen, Putzbox aufheben und tragen wird der Rücken stets gerade gehalten, damit die Bandscheiben gleichmäßig belastet werden. „Zum Aufheben der Hufe und Aufheben von Sattel, Putzkiste oder dergleichen geht man immer mit geradem Rücken in die Knie und trägt Gegenstände, wie beispielsweise den Sattel, stets nah am Körper“, erklärt Marie-Theres Steinmeier. „Menschen, die bereits gravierende Rückenprobleme hatten oder haben, sollten keine Scheu haben, um Hilfe zu bitten.“ Auch der Weg in den Sattel wird rückenschonend gestaltet. Eine Aufsteighilfe schont den Pferderücken und die menschlichen Knie- und Hüftgelenke.

Warum tut reiten vielen Rückengeschädigten so gut?

Auf dem Pferd sitzt der Mensch im so genannten „Spreizsitz“. Im Spreizsitz befindet sich unsere Hüftgelenke in einer entspannten Position. Unser Becken nimmt schaukelnd die Bewegungen des Pferdes auf; es bewegt sich also gleichermaßen nach vorne und hinten, auf und ab, sowie von rechts nach links. Diese Bewegung lockert die Muskulatur. Vor allem die Muskeln im Bauch- und Rückenbereich werden im Wechsel an- und abgespannt. Es ist ein ideales Muskelaufbautraining für den gesamten Beckenboden. Beim Schrittreiten werden aber nicht nur Muskeln trainiert, sondern zugleich Gleichgewicht und Koordination. Der „Strecksitz“ fördert die Aufrichtung aus der Körpermitte. Der Reiter ist kontinuierlich damit beschäftigt, seinen Schwerpunkt wiederzufinden, der durch die Pferdebewegung ständig verloren geht.

Andrea W’s. Rückenprobleme gehören schon seit längerem der Vergangenheit an. Sie ist trotzdem regelmäßig weiter zu Gast in der Ponyoase. „Der Pferdevirus hat mich befallen“, gesteht sie lächelnd. „Mein vierbeiniger Therapeut Henri hat einfach mein Herz erobert.“

Locker durch Poolnudel-Reiten

In der Reithalle von Marie-Theres Steinmeier wird es regelmäßig bunt. Therabänder, Poolnudeln, Balancestäbe, Dualaktivierunsgassen, Pylonen, Balancekissen und vieles mehr bringen Farbe in die Reitstunden. „Mein Wissen um gesundheitliche Komponenten und Zusammenhänge hat meinen Unterricht enorm bereichert“, betont sie. „Ganz gleich auf welchem Niveau meine Reitschüler unterwegs sind, ihnen helfen bestimmte Übungen ungemein.“ So lässt die Ausbilderin beispielsweise Reitschüler, die Schwierigkeiten haben, sich in Wendungen korrekt zu drehen mit einer gebogenen Poolnudel reiten. „Ich sage den Schülern, sie sollen sich vorstellen, diese Poolnudel sei ein Fensterrahmen und sie würden durch dieses Fenster dort hinschauen, wo sie hinreiten möchten. Und siehe da, Kopf und Körper folgen der Blickrichtung; so wie es sein soll.“

Reitern mit verkrampften Armen drückt sie einen Balancestab in die Hand. „Die Balancestäbe werden in Schwingung gesetzt und dann versucht man mit minimalen Bewegungen diese Schwingung aufrecht zu erhalten. Das fördert zum einen die Koordination, denn minimale Bewegungen, wie wir sie ja beim Reiten wünschen, sind gar nicht so einfach. Die Schwingen der Balancestäbe haben zudem den Effekt, dass sie die Muskulatur lockern. Die Schwingungen übertragen sich bis aufs Pferd“, erzählt die Ausbilderin. Regelmäßig wird im Reitunterricht auch ins Röhrchen gepustet. Nicht zur Alkoholkontrolle, sondern zur Schulung des bewussten Aus- und Einatmens. Marie-Theres Steinmeier: „Der Reiter bekommen einen Sportballon, den sie aufblasen und für Kräftigungsübungen nutzen können.“ Nach dem Unterricht gehen die Reitschüler nicht etwa sofort nach Hause. Mit Begeisterung und unter viel Gelächter schulen sie ihr Gleichgewicht auf den Balancekissen, schulen ihre Koordination auf dem Trampolin oder massieren sich gegenseitig mit Igelbällen. „Die Reitstunden mit allem drum herum sind für uns Wellness pur“, bringen sie es auf den Punkt.

Auch Birgit Voggenreiter beobachtet, dass „Wellness“ auch beim Reiten eine große Rolle spielt. „Manche Kunden kommen gezielt in meine Reitschule, um hier abzuschalten und zur Ruhe zu kommen.“ Unser Alltag lässt uns oft kaum Zeit zum Atmen. Neben Bewegungsmangel ist Stress einer der Hauptursachen vieler Erkrankungen. Burnout, Bluthochdruck, Depressionen und Schlafstörungen gehen nicht selten auf das Konto einer zu hohen Belastung. Deshalb sind Stress und Hektik in der Ponyoase tabu. Birgit Voggenreiter hat einige Gruppen, in denen das Erlernen bestimmter Reittechniken an zweiter Stelle steht. In diesen Gruppen geht es vorrangig um Körperwahrnehmung, Stressabbau und Genießen.

Bewegung ist auch für Freizeitreiter Pflicht!

Birgit Voggenreiter und Marie-Theres Steinmeier weisen beide darauf hin, dass das Thema „Gesundheit“ ein umfassendes Thema ist. „Das Thema Gesundheit darf auf keinen Fall vor dem Reitstall halt machen“, betont Marie-Theres Steinmeier. „Es darf sich aber auch nicht auf die Reitstunden beschränken.“ So sollte es selbstverständlich sein, dass Reiter Ausgleichsport betreiben, egal ob sie Turniere bestreiten oder ausschließlich im Gelände herum bummeln möchten. Wer Reiten als Leistungssport betreibt, kommt nicht umhin, seine Kondition durch Ausdauersportarten zu fördern und gezieltes Krafttraining zu betreiben. Alle Leistungssportler, vom Fußballer über Radfahrer bis hin zum Schwimmer gehen ins Fitnesstudio. Wer hingegen nur einmal in der Woche aufs Pferd steigt, der braucht für seine Gesundheit weitere Bewegung. Ein engagierter Trainer wird hier Coach sein und Tipps für die Zeit zwischen den Reitstunden geben.

Ferner spielen Themen wie Ernährung und Entspannung für die menschliche Gesundheit eine bedeutende Rolle. Angst, Stress und Ärger wirken sich ohne Zweifel auf unser körperliches Befinden aus und können der Grund für verschiedenste Erkrankungen und Beschwerden sein. Auch diese Themen sind in der Ausbildung „Reiten als Gesundheitssport“ behandelt und sind Fortbildungsinhalte. „Wir werden zwar nicht zum Yogalehrer ausgebildet, aber wir können unseren Kunden wichtige Hinweise und Anregungen geben. Wir wissen um die positive Wirkung von Meditation, Yoga, autogenem Training, Tai Qui oder progressiver Muskelrelaxtion nach Jacobsen“, erzählt Birgit Voggenreiter. Marie-Theres Steinmeier setzt im puncto Ernährung auf positive Beispiele: Während und nach jeder Reitstunde stehen Mineralwasser und Schorle bereit, im Winter warmer Tee. „Und die Äpfel schmecken nicht nur den Pferden“, lächelt sie.

Einsteigertipps:

Egal, ob Sie nun aufs Pferd steigen möchten oder die Joggingschuhe schnüren. Folgende Regeln sollten Sie beachten:

  • Dosieren Sie das Training richtig. Geben Sie Ihrem Körper ausreichend Zeit um fit zu werden. Vermeiden Sie zu hohe Belastungen; Muskelkater ist ein Zeichen von Überlastung.
  • Schauen Sie ob die „Chemie“ zwischen Ihnen und dem Trainer stimmt und ob Sie sich im Stall wohl fühlen.
  • Informieren Sie sich im Vorfeld über Ihre körperlichen Besonderheiten (Allergien, Asthma, Schwangerschaft …)
  • Tragen Sie bequeme, passende Kleidung, die den Sicherheitsaspekten genügt. Auf dem Pferd brauchen Sie einen Reithelm, eine Hose ohne Innennähte und robuste Schuhe mit einem kleinen Absatz.
  • Sagen Sie Ihrem Trainer was Sie wünschen, besprechen Sie ihre Ziele und den Weg dorthin

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